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Situation von Familien mit kleinen Kindern in bzw. nach der Pandemie aus Sicht "des Gesundheitswesens"

Prof. Dr. Ute Thyen, Leiterin der Neuropädiatrie und des Sozialpädiatrischen Zentrums am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, blickte stellvertretend für "Akteure des Gesundheitswesens" auf Familien mit kleinen Kindern und die Folgen der Corona-Pandemie.

Die Kinderärztin und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. (DGSPJ) unterstützt das NZFH und die Bundesstiftung Frühe Hilfen seit vielen Jahren als Vorsitzende des Beirats. 

Sie fokussierte ihre Ausführungen auf psychosoziale Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Diese seien insbesondere für die Altersgruppe der klein(st)en Kinder besonders wichtig, während akute Virusinfektionen aufgrund wenig schwerer Verläufe eine geringere Rolle spielten und zu möglichen, langfristigen Folgen die Datenlage noch unklar sei. Das Ausmaß der Pandemie-Auswirkungen für Kinder verdeutlichte sie mit dem Hinweis, dass etwa 2.400 Kinder unter 18 Jahren eine primäre Bezugsperson, insbesondere Elternteil, verloren hätten.

Was ist bereits bekannt?

Erste Daten im Zusammenhang mit den Infektionsschutz-Maßnahmen hätten frühzeitig vorgelegen und seien zum Teil bereits beim Kongress im letzten Jahr vorgestellt worden. Ute Thyen fasste zentrale Aspekte zusammen:

  • Eltern von Kindern berichteten über mehr Belastungen durch die Maßnahmen als Erwachsene ohne Kinder
  • Eltern von Kindern mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen berichteten über deutlich höhere Belastungen als Eltern von Kindern ohne Gesundheitseinschränkungen
  • Der soziale Gradient von Gesundheit und Krankheit wirkte sich sehr deutlich aus und verstärkte Benachteiligung und Belastungen
  • Frauen beziehungsweise Mütter seien durch die überproportionale Übernahme von Pflege- und Versorgungsaufgaben besonders betroffen, was zu einer Beeinträchtigung persönlicher Lebensentwürfe, aber auch sozioökonomischer Absicherung führen würde
  • Kinder und Jugendliche berichteten über Verluste in sozialen Beziehungen
  • Für die schulpflichtigen Kinder seien Bildungsverluste nachgewiesen.

Was ist über die Auswirkungen auf Kleinkinder unter 3 Jahren bekannt?

Für kleine Kinder ergebe sich eine besondere Situation dadurch, dass sie keine andere Zeit als die Corona-Pandemie kennen und ihre ersten Lebensjahre in eine Zeit großer Veränderungen und Belastungslagen lägen. So hätten die Auswirkungen der Infektionsschutz-Maßnahmen, insbesondere der Kontaktverbote, das soziale Umfeld stark verändert. Die Schließungen der Betreuungseinrichtungen hätten zu diskontinuierlichen Betreuungssituation geführt. Zudem sei der Medienkonsum der Erwachsenen gestiegen und die Veränderungen hätten die Bezugspersonen psychisch enorm belastet, das Familienklima beeinträchtigt und vermehrt zu familiären Konflikten geführt. Soziale Unterstützung sei zum großen Teil ausgeblieben und das "moralische Dilemma" (zwischen Familienfürsorge und beruflicher Herausforderungen) insbesondere von Müttern sei ein weiteres bekanntes Problem, das wie die anderen genannten Punkte entwicklungsneurologische Folgen für Kleinkinder hätten.

Was dürfen wir erwarten?

Zu den genannten Einschränkungen und Auswirkungen lägen eine Vielzahl evidenzbasierter oder theoriegeleiteter Erkenntnisse vor. Entwicklungsneurologische Folgen nach dieser über zweijährigen besonderen Belastungsphase könnten daher gut vorausgesagt werden. Zu erwarten seien

  • Unsicherheit in Beziehungsentwicklung, was sich zum Beispiel in stärkerem "Fremdeln" äußerte
  • Beeinträchtigte Emotionsregulation der Kinder, weil belastete Eltern weniger als Regulatoren für die Kinder zur Verfügung stehen
  • Verminderte frühkindliche Bildung bei sozial benachteiligten Kleinkindern
  • Langfristige sozioökonomische Nachteile

Wie wirken sich Lebenslage und Rahmenbedingungen durch Corona auf die Grund- und Entwicklungsbedürfnisse von Kindern aus?

Anhand eines Schaubildes erläuterte Ute Thyen den Zusammenhang der elterlichen Fähigkeiten, der familiären und Umwelt-Faktoren sowie der Entwicklungsbedürfnisse von Kindern. Sie verdeutlichte, dass insbesondere die Kontaktbeschränkungen folgenreich gewesen seien, da entscheidende Faktoren wie Ressourcen der Gemeinschaft und soziale Integration sowie wichtige elterliche Fähigkeiten, wie die Vermittlung eines Sicherheitsgefühls, stark beeinträchtigt bzw. weggefallen seien.

Warum sind die ersten Lebensjahre so entscheidend?

Wie wichtig die ersten 1000 Tagen für die neurologische Entwicklung des frühkindlichen Gehirns seien, erläuterte Ute Thyen ebenfalls anhand eines Schaubildes. So gebe es keine andere Entwicklungsphase, in der vergleichbar viele Nervenzellen entwickelt und verknüpft würden. Um deren Funktionsfähigkeit zu erhalten, müssten sie aber kontinuierlich genutzt und anhaltende Störungen vermieden werden.

So sei auch das Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona" ein falscher Ansatz, da man ausbleibende Entwicklungs- und Lernschritte zwar theoretisch "aufholen" könne, in dieser Altersgruppe aber viel eher und entwicklungsbegleitend "kompensiert" werden müsse, insbesondere bei langanhaltenden negativen Einflüssen.

Welche Folgen hat frühkindlicher "toxischer" Stress?

Um die extremen Auswirkungen von frühkindlichen, extremen Belastungen zu untermauern, stellte Ute Thyen vier zentrale Aspekte zu "toxischem Stress" vor:

Mit "toxischem Stress" seien keine alltäglichen Belastungen in der Schwangerschaft und den ersten Lebensmonaten eines Kindes gemeint, sondern schwerwiegende, anhaltende und traumatische psychosoziale Beeinträchtigung.

  • Alle biologischen Systeme seien untrennbar miteinander verbunden, sie "lesen ständig die Umwelt, passen sich ihr an und geben dem Gehirn und den anderen Systemen Feedback". Das passiere kontinuierlich.
  • Schädliche Umwelteinflüsse würden diese Entwicklungspläne oder -verläufe unterbrechen und führten zu Veränderungen, die wiederum zu anhaltenden Störungen der Organfunktionen und -strukturen führten.
  • Kinder seien unterschiedlich sensibel für das Ausmaß dieser Beeinträchtigungen. Diese Unterschiede würden durch Wechselwirkungen mit genetischen Faktoren, dem familiären und unmittelbaren sozialen Umfeld, zum Beispiel der Kindertagesstätte oder den Großeltern, und dem Entwicklungszeitpunkt beeinflusst.
  • Diese kritischen oder sensiblen Perioden seien gerade in den ersten Lebensmonaten so bedeutsam, da in diesem Entwicklungsfenster sowohl positive wie negative Einflüsse unvergleichbar starke Auswirkungen auf verschiedene biologische Systeme hätten.

Was kann man tun?

"Wir sollten nichts Neues tun und müssen uns nichts extra ausdenken", stellte Ute Thyen klar, "es ist alles vorhanden, was man braucht. Kompetenzen und Strukturen müssen dazu nur genutzt, gestärkt und ausgebaut werden."
So gebe es kompetente Gesundheitsfachkräfte, auf deren Kompetenz man vertrauen könne. Sie seien in der Lage, Kindern Sicherheit zu geben. Auch den Familien müsse Sicherheit gegeben werden, zum Beispiel durch eine bedingungslose Anerkennung und die Gewährung einer Kindergrundsicherung.

Mütter müssten zudem besonders entlastet werden, zum Beispiel durch flexible Unterstützungssysteme. Dies alles seien aber Ansätze, die auch ohne Corona-Pandemie wünschenswert und schon vorher bekannt gewesen seien.

Einem "Health-in-all-Policies-"Ansatz folgend müsste die Frage "Was brauchen Kinder und Familien?" jegliches Handeln in allen Politikbereichen bestimmen.

Das Corona-Aufholpaket der Bundesregierung setze dabei teilweise an der falschen Stelle an, wenn es zum Beispiel bevorzugt "neue" Projekte fördere. Stattdessen plädierte sie dafür, vorhandene, etablierte Ansätze auf kommunaler Ebene zu fördern – wie in den Frühen Hilfen –, vorhandenen Kräften und Kompetenzen zu vertrauen und diese verlässlich zur Verfügung zu stellen. Dazu gehöre auch die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten. Sie seien auch während der Kontaktverbote und Schließung der Kinder- und Jugendhilfe-Angebote Ansprechpersonen für Familien gewesen.

Ziel aller Bemühungen müsste sein, Familien Sicherheit zu geben und Kindern einfache und klare Botschaften zu vermitteln im Sinne von: "Es kommt Hilfe!".