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Umsetzung von Health in all Policies (HiAP) insbesondere in den Frühen Hilfen in Zeiten einer Pandemie

Prof. Dr. Ute Thyen, Leiterin Neuropädiatrie und Sozialpädiatrisches Zentrum am  Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, führte aus, inwiefern es gelungen ist, den sogenannten Health in All Policies-Ansatz (HiAP) – insbesondere in den Frühen Hilfen – während der Corona-Pandemie umzusetzen. Ihr Vortrag orientierte sich an dem kürzlich veröffentlichten Papier der Arbeitsgruppe des Zukunftsforums Public Health zu HiAP in Deutschland und einem Eckpunktepapier zu einer Public-Health-Strategie für Deutschland.

Ihre breite fachliche Expertise bringt Ute Thyen seit vielen Jahren auch im Beirat des NZFH und seit 2018 in der Bundesstiftung Frühe Hilfen ein.

Was ist unter Health-in-All-Policies (HiAP) zu verstehen?

Einleitend stellte sie das Health-in-All-Policies-Konzept der WHO vor. Entwickelt worden sei es von der WHO als Grundlage, um gesundheitliche Herausforderungen Ressort-/Politikfeld-übergreifend zu bewältigen. Zu diesen Herausforderungen zähle die Bewältigung der sozialen Ungleichheit als "wichtigste Determinante für Gesundheit", so Ute Thyen.

Sie erläuterte dazu die Kernaussage des HiAP-Konzeptes, dass Gesundheit nicht nur Thema des Gesundheitssektors sei, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die in allen Bereichen des öffentlichen Handelns gefördert werden müsste.

Dabei dürfe es aber auch nicht nur darum gehen, die Auswirkungen von (politischen) Entscheidungen auf Gesundheit zu berücksichtigen. Vielmehr müssten politische Führung und gesellschaftliches Handeln von Beginn an auf gesunde Lebensverhältnisse ausgerichtet sein und allen Menschen Teilhabe und Partizipation ermöglichen sowie Bürgerrechte stärken.

Da es keine direkten Hebel gebe, um soziale Ungleichheit zu bekämpfen, müsse die Sicherstellung von Gesundheit im Fokus stehen. Dazu sehe das Konzept vor, allen Menschen Zugang ("Access") zu zehn verschiedenen Ressorts zu schaffen sowie weitere Aspekte sicherzustellen, zum Beispiel Zugang zum medizinischen Versorgungssystem, zu gesunder Nahrung/Ernährung oder zu bezahlbarem Wohnraum sowie die Sicherstellung von Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung oder Sicherheit im nahen Umfeld und öffentlichen Raum.

Mit Blick auf die WHO-weite Entwicklung und Gültigkeit des Konzeptes betonte Ute Thyen, dass dieses nicht nur hinsichtlich ärmerer Länder entwickelt worden und anwendbar sei. Sie stellte klar, dass gerade eine Krise wie die Corona-Pandemie zeige, was die krisenbedingten Auswirkungen und Veränderungen für die Lebensbedingungen und Zugänge für alle Menschen bedeuteten.

Voraussetzung für die Umsetzung von Health in All-Policies sei allerdings ein starkes Public-Health-System, das sich an den – ebenfalls – zehn von der WHO definierten Kernbereichen (Essential Public Health Operations) von Public-Health orientieren könne, die sie später aufgriff.

Warum ist die Förderung der familiären Gesundheit so wichtig?

Ute Thyen skizzierte dazu die Bedeutung der Familie als primäre Lebenswelt für Kinder, insbesondere für kleine Kinder. Ausgehend von der Annahme, dass die Familie ein zentrales Element von Gesellschaften sei, wies sie darauf hin, dass Familien als Lebensraum oder "Setting" für Kinder nicht im Präventionsgesetz berücksichtigt seien.

Als Lösung, um der Bedeutung von Familien für die Entwicklung und Gesundheit von Kindern gerecht zu werden, forderte sie einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz: "Kinder und Jugendliche – aber auch ganze Familien – haben das Recht, zu allen Angelegenheiten, die ihr Leben betreffen, gehört zu werden, Mitsprache zu erhalten, Entscheidungen mitzugestalten und umzusetzen".

Was ist während der Corona-Pandemie gut gelaufen? Wo gab es Lücken?

Anhand einiger Punkte der sogenannten "Essential Public Health Operations" der WHO nahm Ute Thyen Stellung zu Entscheidungen und Maßnahmen des Bundes zu Beginn der Corona-Pandemie mit Blick auf Kinder.

Das Schema der Essential Public Health Operations (EPHOs) umfasse zehn für ein nationales Public-Health-System relevante Funktionen und sei damit auch ein Instrument zur Selbsteinschätzung, um einen Ist-Zustand zu erfassen, Verbesserungspotenziale zu erkennen und Weiterentwicklungsstrategien zu formulieren.

  • Solide Daten schaffen und nutzen: Zu diesem Punkt verwies Ute Thyen einleitend darauf, dass keine systematischen (staatlichen) Surveillance- und Monitoring-Aktivitäten zu Corona bei Kindern vorlagen oder erhoben worden seien, ebenso wenig zu Folgen durch Kontaktbeschränkungen und Bildungsverlusten für Kinder. Was im ersten Lockdown im Frühjahr verständlich war, wäre für den zweiten Lockdown unbedingt notwendig gewesen.
  • Krisenplanung und Krisenmanagement – Gesundheitliche Notlagen erfolgreich meistern: Kinderbetreffende Maßnahmen, zum Beispiel Kita-Schließungen, seien ergriffen worden, ohne dass systematische evidenzbasierte Daten zur Wirksamkeit dieser Maßnahmen vorgelegen hätten. Hier wären auch Ergebnisse wichtig gewesen, welche Auswirkungen Kita- oder Schul-Schließungen zum Beispiel im Vergleich zu Unternehmensschließungen auf das Infektionsgeschehen haben.
  • Gesundheit vielfältig schützen: "Belange von Kindern sind nicht ausreichend berücksichtigt worden", so Ute Thyen zu diesem Punkt, zu dem beispielweise auch dem HiAP-Ansatz entsprechend Umweltschutz, Lebensmittelsicherheit, Verbraucherschutz oder Patientensicherheit zählten. Die direkten gesundheitlichen Auswirkungen des Virus seien bei Kindern zwar nicht so entscheidend, darüber seien aber die Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wesentlich stärker.
  • Gesundheitsförderung, v. a. gesundheitliche Ungleichheit abbauen: Gesundheitsfördernde Maßnahmen, ebenso Angebote der Frühen Hilfen, seien zeitweise nicht weitergeführt, sondern zugunsten des Infektionsschutzes unter dem Deckmantel des Infektionsschutzgesetzes vollständig ausgesetzt worden. 

Zusammenfassend hielt sie bezüglich der EPHO-Einschätzung fest: "Aufgrund eines fehlenden funktionierenden Public-Health-Systems wurden auch während der Pandemie nicht alle Handlungsbereiche gleichzeitig mitgedacht und berücksichtigt." Die unterschiedlichen Maßnahmen beschränkten sich fast ausnahmslos auf das Ziel des Infektionsschutzes – zulasten der anderen Bereiche. Das deute auf die enorme Benachteiligung von Kindern während der Corona-Pandemie hin.

Für weitere Informationen zu diesen und den weiteren EPHO-Punkten, die sich vor allem mit Strukturen befassten, verwies sie auf die Ausführungen in der genannten Veröffentlichung.

Was kann jeder Einzelne tun?

Abschließend verglich sie die gesamtgesellschaftlichen Aushandlungsprozesse für Gesundheit in einem gut funktionierenden Public-Health-System mit einem Jonglier-Prozess. "Viele sind aktiv und unterstützen Familien, es gibt eine große Zahl von Modellprojekten und Initiativen", so Ute Thyen. Diese seien aber nicht systematisch zusammengeführt.

Sie wies in diesem Zusammenhang noch mal auf die Notwendigkeit eines strukturell verankerten und gut funktionierenden Public-Health-Systems hin.

Als Anregung und Motivation für alle Teilnehmenden blieb sie bei dem Bild und forderte die Akteure dennoch auf, sich auch weiterhin auf den Weg zu machen und "kräftig mitzujonglieren".