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Entwicklung einer alltagstauglichen Methode zur Analyse von Fallverläufen

In einem Online-Workshop des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) am 2. November 2020 diskutierten die Teilnehmenden über Rahmenbedingungen und konzeptionelle Ansätze für Fallanalysen als "alltägliches" Instrument der Qualitätsentwicklung im Kinderschutz. Der Fachaustausch mit Expertinnen und Experten aus dem Arbeitsfeld der Jugendämter bildete den Einstieg in den Entwicklungsprozess einer alltagstauglichen Methode.

Hintergrund: Workshop als Auftakt der Methoden-Entwicklung

Der Workshop bildete den Auftakt für einen Prozess, in dem das NZFH gemeinsam mit einem begleitenden Praxisbeirat bis Ende 2022 eine ressourcenschonende Methode zur Analyse von Fallverläufen im Kinderschutz entwickeln will. Der Praxisbeirat, dessen konstituierende Sitzung für das 1. Quartal 2021 geplant ist, wird sich aus den Workshop-Teilnehmenden sowie weiteren Expertinnen und Experten im Bereich der Fallanalysen zusammensetzen. In der Folge werden dann bis Ende 2022 voraussichtlich  jährlich zwei weitere Online-Termine stattfinden. Die Methode wird gemeinsam mit einzelnen Jugendämtern erprobt und weiterentwickelt, bevor die Ergebnisse in Form einer Handreichung beziehungsweise Empfehlung veröffentlicht werden.

Teilnehmende am Auftakt-Workshop

Teilgenommen haben Vertreterinnen und Vertreter acht verschiedener Jugendämter aus fünf Bundesländern: Leitungen des Allgemeinen Sozialen Dienstes, Kinderschutzkoordinierende und Teamleitungen. Sie hatten sich entweder bereits mit Fallanalysen befasst oder konkretes Interesse daran geäußert. Darüber hinaus hat sich eine Vertreterin einer mit der Fachaufsicht von Jugendämtern betrauten, überregionalen Stelle an der Diskussion beteiligt.

Austausch und Diskussion

Folgende Aspekte wurden von den Expertinnen und Experten in dem Online-Workshop zusammengetragen und diskutiert:

Der Ausgangspunkt, sich mit Fallanalysen zu befassen, war in vielen Jugendämtern ein sogenannter "Pressefall", also ein Fall, in dem das Handeln des Jugendamtes öffentlich skandalisiert wurde. Die in der Folge durchgeführten Fallanalysen wurden meist von externen Stellen und/oder auf Druck oder Veranlassung von außen durchgeführt. Die dabei gesammelten Erfahrungen werden von den meisten Jugendämtern als kritisch beschrieben. Dennoch haben sich die an dem Workshop beteiligten Ämter dazu ausgesprochen, die Idee, Fallanalysen als Instrument der Qualitätsentwicklung weiter zu verfolgen. Unterschiedliche Methoden kamen dabei bisher zum Zuge.

Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den bisherigen Vorgehensweisen war im Rahmen dieses Auftaktworkshops noch nicht möglich. Dennoch wurden einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten beziehungsweise Unterschiede deutlich. Gemeinsam haben alle Fallanalysen, dass sie im Dialog mit Fachkräften durchgeführt werden, was auch durch die Namen der Verfahren zum Ausdruck gebracht wird: Fallwerkstätten, Falllabore oder Fallanalysen. In den meisten Fällen werden die Fallanalysen entweder von einer internen, aber neutralen und unabhängigen Stelle oder von einer externen Person durchgeführt, das heißt vorbereitet und moderiert.

Vorbereitungszeit: Der Aufwand für die Vorbereitung wird von den meisten als erheblich beschrieben, sodass sich einige der Ämter dafür entschieden haben, die Fachkräfte dabei zu unterstützen. Im Mittelpunkt der Vorbereitung steht bei allen Verfahren das Aktenstudium und die Rekonstruktion des Falles auf einem Zeitstrahl oder in Form einer Chronologie. Je nach Anzahl und Umfang der Akten kann die Zeit für die Vorbereitung sehr variieren. Für die Fallwerkstatt oder das Falllabor selbst werden zwischen drei Stunden und 1,5 Tagen angesetzt. Die Festlegung auf einen halben Tag scheint die Bereitschaft zur Teilnahme zu erhöhen. Zugleich haben zu knapp bemessene zeitliche Ressourcen dazu geführt, dass die Fälle nicht in ausreichender Tiefe und für die Fachkräfte zufriedenstellend besprochen werden konnten. In der Folge wurde die Teilnahme an der Fallanalyse von den Fachkräften dann als "verschenkte Zeit" erlebt.

Anzahl der Fallanalysen: Die Anzahl der analysierten Fälle pro Jahr ist sehr unterschiedlich. Deutlich wurde jedoch, dass beeinflusst durch den relativ hohen Aufwand und die gleichzeitig begrenzten personellen und zeitlichen Ressourcen die Zahl der Fälle pro Jahr begrenzt ist beziehungsweise je nach Arbeitsbelastung schwankt. Manche Jugendämter haben sich konkrete Ziele gesetzt, wie zum Beispiel  pro Region und Jahr ein Fall. Dies konnte bisher jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht immer durchgehalten werden. Ebenso gibt es Konzepte, die die Option einer Fallanalyse anbieten und es dann den Fachkräften, Teams oder Abteilungen überlassen ist, ob sie dieses Angebot annehmen.

Fallanalysen – so zumindest der aktuelle Stand – sind somit bisher kein Instrument, das ähnlich wie Fallbesprechungen oder Fallsupervisionen in kürzeren Abständen realistisch erscheint.

Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass Fallanalysen als ein Instrument zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit den Arbeitsweisen und Verfahren innerhalb und gegebenenfalls zwischen Institution(en) zu verstehen ist und daher von Verfahren, die der Kontrolle oder Fachaufsicht dienen, abgegrenzt werden sollten. Vor diesem Hintergrund wurde gemeinsam mit den Teilnehmenden zusammengefasst, was wichtige Ziele einer alltagstauglichen Methode von Fallanalysen sein könnten.

Erkennen von Risiken und Schwachstellen: Ziel routinemäßiger Analysen von Fallverläufen sollte es sein, Erkenntnisse über institutionelle Schwachstellen sowie Risiken im Kinderschutzhandeln zu gewinnen und daraus Konsequenzen für die Weiterentwicklung des Kinderschutzes zu ziehen. Die Fälle sollen nicht im Hinblick auf individuelle Fehler oder der Suche nach dem oder der Schuldigen untersucht, sondern vielmehr als eine Art Fenster genutzt werden, das einen genaueren Blick auf die Instrumente, Verfahren sowie Denk- und Handlungsroutinen im lokalen Kinderschutzsystem ermöglicht.

Fortbildung: Neben der strukturellen und institutionellen Qualitätsentwicklung kann die gemeinsame Arbeit an der Rekonstruktion und Analyse des Fallverlaufs auch der Fortbildung der Beteiligten dienen. Die in der Fallanalyse auftauchenden Hinweise könnten in der Folge zu Verbesserungen in der täglichen Arbeit führen.

Qualifizierungsbedarf erkennen: Fallanalysen können ebenso dafür genutzt werden, um wiederkehrende Schwierigkeiten in der Fallbearbeitung (zum Beispiel Unsicherheiten bei der Bearbeitung von Fällen häuslicher Gewalt) besser zu verstehen und somit der Qualitätsentwicklung zugänglich zu machen.

Entwicklung einer Fehlerkultur: Fallanalysen können darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer Fehlerkultur im Jugendamt / ASD leisten. Ziel sollte es sein, dass die routinemäßige offene und selbstkritische Auseinandersetzung mit der konkreten Fallarbeit zur Selbstverständlichkeit wird und sich das Jugendamt inklusive aller Mitarbeitenden langfristig als lernende Organisation versteht. Voraussetzung dafür ist, dass es in den Prozessen nicht um die Suche nach individuellem Versagen oder Schuld geht und identifizierte Fehler nicht sanktioniert werden.

Personalbindung: Last but not least besteht die Hoffnung, dass Jugendämter, die eine konstruktive Fehlerkultur leben und ihre Praxis in einem offenen Dialog mit den Mitarbeitenden reflektieren sowohl Fachkräfte binden als auch an Attraktivität für Bewerberinnen und Bewerber gewinnen. Ein Ziel, das vor dem Hintergrund der hohen Fluktuation und des Fachkräftemangels in Jugendämtern aktuell sehr bedeutend sein kann.

mit Beispielen

Keine öffentlich skandalisierten Fälle: Pressewirksame Fälle und Fälle, in denen die Arbeit des Jugendamtes skandalisiert wird bzw. in denen die Staatsanwaltschaft gegen das Jugendamt ermittelt, bedürfen grundsätzlich auch einer Analyse und Aufarbeitung. Aufgrund des größeren Aufwandes, des erhöhten externen Erwartungsdruckes sowie der an vielen Stellen abweichenden Rahmenbedingungen sollten diese Fälle jedoch mit externer Unterstützung und methodisch (anders) abgesichert untersucht werden. (Die Entwicklung und Erprobung einer Methode zur Analyse problematischer Fallverläufe im Kinderschutz sind in der Publikation "Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen" zusammengefasst).

Methoden, die sich für den Alltag eignen, müssen dagegen so konzipiert sein, dass sowohl die Güte der Ergebnisse hoch ist als auch die begrenzten personellen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen berücksichtigt werden. Insofern eignen sich alltagstaugliche Methoden in der Regel nicht für Fälle, in denen die Qualität der Arbeit des Jugendamtes öffentlich in Frage gestellt wird.

Gut gelaufenen Fälle: Insbesondere für den Einstieg in die regelmäßige Analyse von Fallverläufen als Strategie der Qualitätsentwicklung und Fortbildung können schwierige, aber gut gelaufene Fälle genutzt werden. Also Fälle, in denen es zum Beispiel gelungen ist, Kinder vor einer (erneuten) Vernachlässigung oder Misshandlung zu schützen oder in denen der Familien die geeigneten Hilfen mit entsprechendem Hilfeerfolg vermittelt werden konnten. Insbesondere dann, wenn ein kritischer Diskurs und der offene Austausch über Fehler oder Misserfolge bisher nicht in der Kultur der Organisation verankert ist, kann der Einstieg anhand von gelungenen Fällen die Hürde senken, Fälle einzubringen und sich an dem Prozess zu beteiligen.

Zu erwartender Mehrwert für Fachkräfte: Bei der Auswahl problematischer Fälle kann es die Hürden für eine Beteiligung ebenfalls senken, wenn durch die Fälle Themen bearbeitet werden, die Bedarfe oder aktuelle Fragestellungen der Fachkräfte aufgreifen. Je eher sich die Fachkräfte von der Fallanalyse einen konkreten Gewinn für ihre weitere Arbeit erwarten, umso größer ist auch ihre Bereitschaft und Motivation, Fälle bereit zu stellen und sich in ihrem Alltag Zeit für den Prozess zu nehmen.

Häufiger auftretende Schwierigkeiten: Für die Fallanalysen eigenen sich auch Fälle, die exemplarisch für wiederkehrenden Themen oder spezifische Fallmerkmale stehen, die im Alltag häufiger zu Schwierigkeiten geführt haben oder deren Ergebnis als unbefriedigend erlebt wurde.

Beispiele für sich wiederholende Themen können sein:

  • Fälle mit wiederholten Meldungen trotz eines bestehenden Hilfe- und Schutzkonzeptes 
  • spezifische Gefährdungslagen, wie zum Beispiel Vernachlässigungsfälle, die trotz langer und intensiver Bearbeitung zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führen oder 
  • Fälle mit misslungener Kooperation oder wiederkehrenden Schwierigkeiten an der Schnittstelle zu anderen Institutionen.

Für die Identifikation von wiederkehrenden Themen oder Fallkonstellationen können beispielsweise die Themen in Fallbesprechungen oder die §8a-Statistik ausgewertet werden.

Kritik Dritter: Auslöser für eine Fallanalyse können auch Kritik von außen zum Beispiel durch Kooperationspartner oder Beschwerden von Eltern sein. Je nach Verfahren oder zeitlichen Ressourcen – insgesamt aber eher selten – werden von den Jugendämtern Eltern oder Kooperationspartner an der Fallanalyse beteiligt.

Einzelfallmerkmale: Darüber hinaus wurden im Workshop auch Einzelfallmerkmale benannt, die Auslöser für eine Fallanalyse sein können:

  • Zu frühes, vorschnelles Eingreifen oder unverhältnismäßige Schutzmaßnahmen (zum Beispiel Inobhutnahmen) als Pendant zu den Fällen, in denen Schutzmaßnahmen zu spät oder in zu geringem Umfang ergriffen wurden, sodass das Kind (erneut) geschädigt wurde. 
  • Wenn Eltern und/oder Kinder (entweder aus der Sicht der Institution oder aus der Sicht der Betroffenen) nicht ausreichend beteiligt wurden. 
  • Langandauernde Fälle, ohne dass sich Erfolge im Sinne von positiven Veränderungen abzeichnen. 
  • Fälle, mit deren Verlauf oder Ergebnis die Fachkräfte subjektiv nicht zufrieden sind ("wir fühlen uns nicht gut mit dem Fall"). 
  • Fälle mit viel Dynamik im Familien- und Helfersystem und mit hoher emotionaler Beteiligung der Fachkräfte. 

Abgrenzung von Fallbesprechungen: Nicht zuletzt um retrospektive Fallanalysen von zukunftsorientierten Fallbesprechungen abzugrenzen, werden in der Regel abgeschlossene Fälle oder Fälle ohne aktuellen Handlungs- oder Entscheidungsbedarf in den Fallwerkstätten oder Falllaboren untersucht.

Grundhaltung: Als wesentliche Grundlage für ein System der routinemäßigen Auseinandersetzung mit Fallverläufen im Rahmen von Fallwerkstätten oder Falllaboren sind für die teilnehmenden Fachkräfte die gleichen Aspekte wichtig, die auch für aufwändigere Verfahren gelten, wie sie in der Veröffentlichung "Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen" beschrieben sind.

  • Vertrauen untereinander, aber vor allem in die Leitung, dass es nicht um die Suche nach Schuld und in der Folge Bestrafung geht, sondern darum, dass die Organisation aus den Erfahrungen des exemplarisch ausgewählten Falles lernt. 
  • Eine Haltung der grundsätzlichen Wertschätzung und des Respektes für die Arbeit und die Verantwortung der Fachkräfte im Kinderschutz. 
  • Vertrauen in die Moderation, dass sie die falleinbringenden Fachkräfte vor Angriffen und Verurteilungen schützt. 

Leitung als Vorbild: Besondere Bedeutung kommt hierbei den Leitungskräften zu. Ein offener Umgang mit eigenen Fehlern oder Kritik an ihrer Arbeit ist Vorbild für gelebte Fehlerkultur und schafft Vertrauen.

Bereitschaft der Fachkräfte, sich zu beteiligen: Der erfolgreiche Ablauf einer Fallanalyse hängt auch stark von der Motivation und Bereitschaft der Fachkräfte ab, sich daran zu beteiligten. Sie bringen nicht nur die Fälle ein, sondern sollten auch Auskunft darüber geben, was den Fallverlauf über die in den Akten dokumentierten Informationen hinaus beeinflusst hat. Ferner haben sie großen Einfluss darauf, ob der Transfer der Erkenntnisse in die weitere Arbeit gelingt. Insofern sollte die Entscheidung für die Durchführung von Fallanalysen möglichst von vielen der Mitarbeitenden mitgetragen und nicht nur über eine Leitungsentscheidung "verordnet" werden.

Die im Praxisbeirat vertretenen Jugendämter berichten über sehr unterschiedliche Erfahrungen darüber, ob und wie es gelungen ist, die Mitarbeitenden für Fallanalysen zu gewinnen. Bei einigen Ämtern gab es kaum Schwierigkeiten, Fachkräfte zu gewinnen und Fälle zu generieren. In anderen Ämtern hingegen wurde das Vorhaben eher verhalten aufgenommen und die Akquise von Fällen war – zumindest anfänglich – mühsam.

Um die Mitarbeitenden für Fallanalysen zu gewinnen, scheint es sinnvoll, die Fachkräfte so früh wie möglich einzubinden und sie bereits im Vorfeld zu informieren und aufzuklären, wie ein Analyseprozess abläuft, wer beteiligt ist, wie die Ergebnisse aufbereitet werden und was damit passiert. Den Fachkräften exemplarische Ergebnisse vorzustellen, die mit Hilfe der angewandten Methode generiert wurden, hat sich hierbei als hilfreich erwiesen. Die Erfahrung der Jugendämter hat außerdem gezeigt, dass die Fachkräfte vor allem dann bereit sind, zeitliche Ressourcen in ihrem Alltag bereit zu stellen, wenn sie auch einen persönlichen Nutzen für ihre zukünftige Arbeit erkennen. Insofern kann es sinnvoll sein, dass neben dem organisationalen Lernen und der Qualitätsentwicklung auch der individuelle Erkenntnisgewinn und die Fortbildung als Ziele betont werden.

Neben viel Überzeugungsarbeit werden vereinzelt von Seiten des Bundeslandes oder der Amtsleitung auch externe Anreize gesetzt. Beispiele hierfür sind Prämien, die die Teams nach dem Einbringen eines Falles für ihre Personalentwicklung einsetzen können oder die Bereitstellung von finanziellen Mitteln für die externe Moderation der Fallanalyse.

Bereitstellung zeitlicher Ressourcen: Vor allem in Zeiten massiver Arbeitsbelastung wird die Rekonstruktion und Analyse eines abgeschlossenen Falles schnell als "Luxus" erlebt, den man sich nicht mehr leisten kann. Insofern erscheint es sinnvoll, Zeiten für Fallanalysen bei der Personalbemessung zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Ziel ist, diese als Instrument der Qualitätsentwicklung und Fortbildung regelhaft einzusetzen.

Weiterentwicklung datenschutzrechtlicher Voraussetzungen: Wichtig und zugleich von den einzelnen Ämtern nicht zu beeinflussen, ist die Schaffung datenschutzrechtlicher Regelungen, die die Durchführung von Fallanalysen ermöglichen. Derzeit gibt es hierfür keine klaren Vorgaben bzw. stellen die vorhandenen Gesetze eher zusätzlich Hürden auf, die Fallanalysen erheblich erschweren. Dies gilt insbesondere dann, wenn externe Personen mit der Durchführung einer Fallanalyse beauftragt werden oder Kooperationspartner, wie zum Beispiel Freie Träger oder die Gesundheitshilfe eingebunden werden sollen (Informationen zu den bestehenden Regelungen enthält ein Rechtsgutachten).

mit beispielhafter Prozess-Skizze

Nicht zuletzt, weil Fehler nach wie vor eng mit Schuld und (strafrechtlicher) Haftung verbunden sind, ist die Einführung von Fallanalysen als Instrument der Qualitätsentwicklung eine Herausforderung, die Zeit, Geduld und Fingerspitzengefühl voraussetzt. Die Etablierung von routinemäßigen Fallanalysen wird daher eher als Ziel eines längeren Prozesses angesehen, in dem die Fachkräfte nicht nur mitgenommen werden, sondern auch Vertrauen in das Instrument entwickeln können.

Im Folgenden soll ein solcher Prozess beispielhaft skizziert werden:

  1. Diskussion und Verständigung innerhalb des Jugendamtes und über die Hierarchieebenen hinweg über die grundsätzliche Haltung gegenüber Kritik und Fehlern.
  2. Etablierung einer Fehler- und Vertrauenskultur durch einen offenen und konstruktiven Umfang mit Kritik und Misserfolgen im Arbeitsalltag allgemein – nicht nur begrenzt auf Fallarbeit oder -analysen (wobei der Leitung eine besondere Vorbildfunktion zukommt).
  3. Beteiligung der Fachkräfte an der Konzeption sowie der Einführung von Fallanalysen; Transparenz über die Ziele, Verfahrensweisen und Ergebnisse.
  4. Einstieg in Fallanalysen, gegebenenfalls anhand gelungener Fälle; hierarchieübergreifende Reflexion und gegebenenfalls Überarbeitung sowohl des Verfahrens, der Ergebnisaufbereitung und des Transfers.
  5. Bereitstellung und Diskussion der Ergebnisse sowie ihrer Bedeutung für die Weiterentwicklung des Kinderschutzes in der Institution mit allen Fachkräften
  6. Fortsetzung der Fallanalysen als regelhaftes und verbindliches Angebot, damit Fachkräfte Erfahrung sammeln und mit dem Instrument vertraut gemacht werden können.

Diskussion zu fünf konkreten methodischen Aspekten

Damit Fallanalysen in den Alltag des Jugendamtes integriert werden können, sollten die Verfahren für die Beteiligten möglichst niedrigschwellig und ressourcenschonend gestaltet sein. Gleichzeitig muss das methodische Vorgehen jedoch auch dem Anspruch genügen, dass die im Analyseprozess gewonnenen Ergebnisse hochwertig und für den QE-Prozess nützlich sind. Insofern entsteht hier ein Spannungsfeld, das die Entwicklung einer alltagstauglichen Methode vor einige Herausforderungen stellt. Zentrale Fragen, die im zukünftigen Entwicklungsprozess eine bedeutende Rolle spielen werden, sind daher:

  • Auf welche Arbeitsschritte kann zugunsten eines geringeren Aufwandes gegebenenfalls verzichtet werden?
  • Welche Arbeitsschritte sind unverzichtbar, weil sie für den Erfolg der Fallanalyse maßgeblich sind?

Folgende fünf methodischen Aspekte wurden im Workshop diskutiert:

Die Erfahrungen der Jugendämter mit Fallanalysen zeigen, dass die Beauftragung einer externen Person oder aber die Begleitung und Moderation durch eine interne, neutrale und unabhängige Stelle sinnvoll und notwendig ist. Die Modelle variieren zwischen einer Moderation durch den/die QE Beauftragte/n im Kinderschutz, die Bereitstellung eines überregionalen Pools an qualifizierten Moderatorinnen, Patenschaften zwischen Ämtern, die sich gegenseitig Moderatorinnen und Moderatoren zur Verfügung stellen bis hin zur Kooperation mit Hochschulen oder Instituten.

Der Vorteil einer Moderation / Begleitung durch eine externe oder neutrale Stelle wird vor allem in folgenden Punkten gesehen:

  • Die Rekonstruktion des Falles erfolgt nach einheitlichen Kriterien.
  • Die Fachkräfte werden bei der Vorbereitung der Fallchronologie unterstützt und / oder zeitlich entlastet.
  • Blinde Flecken oder Tabuthemen können von neutralen, externen Personen eher erkannt und thematisiert werden.

Einigkeit besteht darin, dass Personen, die Fallanalysen begleiten und moderieren, vorher ausreichend und in geeigneter Form geschult werden müssen, damit sie die Verantwortung für einen solchen Prozess übernehmen können.

Die Besetzung der Fallwerkstätten oder Falllabore ist sehr unterschiedlich. Zum Teil handelt es sich um jugendamtsinterne Veranstaltungen, zum Teil werden Mitarbeitende anderer Jugendämter zum Beispiel im Rahmen von Qualitätszirkeln beteiligt.

Bewährt hat sich eine Mischung aus festen Mitgliedern und wechselnden Teilnehmenden. Der Vorteil eines festen Mitgliederstammes ist, dass diese

a) Muster, also wiederkehrende Schwierigkeiten oder Fehler erkennen können, die gegebenenfalls auf einen erhöhten Handlungsbedarf hinweisen und

b) zunehmend Routine bei der Analyse von Fallverläufen entwickeln.

Zu den wechselnden Mitgliedern gehören insbesondere die für den jeweiligen Fall verantwortlichen Fachkräfte.

Sehr unterschiedlich gehandhabt wird der Einbezug der Familie in den Analyseprozess. Die Varianten reichen von keiner Beteiligung, einem Vorgespräch oder Interview bis hin zur persönlichen Mitwirkung am Analyseprozess. Eine ausführliche Diskussion, welches Vorgehen sich im Hinblick auf ein Verfahren eignet, das im Alltag eingesetzt wird, steht noch aus.

Der Einbezug von Kooperationspartnern wird ähnlich unterschiedlich gehandhabt. Ergänzend kann an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass für den Einbezug von Stellen außerhalb des Jugendamtes in der Regel die Einwilligung der Betroffenen vorliegen muss Informationen zu Rechtsfragen enthält ein Rechtsgutachten. Insofern erfordert der unter Umständen sinnvolle und je nach Fragestellung im Fall gegebenenfalls sogar notwendige Einbezug Dritter einen zusätzlichen Aufwand bei der Vorbereitung eines solchen Analyseprozess.

Alle Jugendämter berichten, dass sie eine chronologische Rekonstruktion des Fallverlaufs als Datengrundlage im Analyseprozess nutzen. Art, Inhalte und Darstellungsformen unterscheiden sich. Ebenso gibt es Unterschiede, wer die Fallchronologie erstellt. In manchen Verfahren kommen auch Genogramme zum Einsatz. Zum Teil werden den Teilnehmenden die Unterlagen vorab zur Vorbereitung zugesandt, was sich als hilfreich erwiesen hat.

Die chronologische Rekonstruktion des Falles anhand der Akten wird von allen als (sehr) aufwändig und zeitintensiv beschrieben. Gleichzeitig wird diese Form der Aufbereitung des Falles als wesentlich und unverzichtbarer Bestandteil der Fallanalysen erlebt. Die Verwendung von Fallchronologien, die bereits Bestandteil der Akte sind, wird zwar als hilfreich angesehen, zugleich wird aber auch festgestellt, dass sie die Rekonstruktion anhand der Akteninhalte nicht ersetzen. Grund hierfür ist, dass in den fortlaufend erstellten Chronologien unter Umständen Ereignisse fehlen, die sich erst im Rückblick als bedeutsam für den Fallverlauf erwiesen haben. Darüber hinaus enthalten die meisten Fallchronologien, die für eine Fallanalyse erstellt werden, nicht nur wichtige Meilensteine in der Fallbearbeitung, sondern beispielsweise auch die einzelnen persönlichen Kontakte zur Familie, Absprachen zwischen Kooperationspartnern oder eine Darstellung der zum aktuellen Zeitpunkt bestehenden Einschätzungen. Diese sind in fortlaufenden Chronologien eher selten zu finden.

Der Transfer der Ergebnisse im Sinne der Weiterentwicklung der Praxis wurde von einigen Jugendämtern als besondere Herausforderung beschrieben, für die bisher noch gute Strategien fehlen. Dies entspricht auch den Ergebnissen des 2. Fachgespräches Kinderschutz, das vom NZFH im März 2019 durchgeführt wurde. Unter dem Titel Transfer von Ergebnissen aus Fallanalysen in die Praxis – Herausforderungen einer nachhaltigen Qualitätsentwicklung im Kinderschutz haben 50 Expertinnen und Experten über Möglichkeiten, Chancen und Herausforderungen eines sinnvollen und wirksamen Praxistransfers von Ergebnissen aus Fallanalysen diskutiert.

Mit der Absicht die Grundlagen für den Transfer bereits im Analyseprozess zu legen, werden in der vom NZFH entwickelten Methode "Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen" die Führungskräfte aktiv in Form eines sog. "Review-Teams" in den Analyseprozess eingebunden. Der Grund für diese Erweiterung des Analyseprozesses war die Beobachtung, dass Führungskräfte, die unmittelbar am Analyse- und damit am Erkenntnisprozess beteiligt waren, sehr viel konkretere Vorstellungen davon entwickeln konnten, was für die QE sinnvoll und notwendig ist, als Führungskräfte, denen die Ergebnisse lediglich im Nachgang vorgestellt werden.

Fazit

Bereits die kurze Diskussion einzelner methodischer Aspekt im Workshop deutet darauf hin, dass eine "alltagstaugliche" und damit ressourcenschonende Methode komplexere Analyseprozesses nicht ersetzen kann. Vielmehr wird es darum gehen, ein Verfahren zu entwickeln, das aufwändigere Fallanalysen ergänzt und dadurch einer breiteren Basis an Fachkräften in Jugendämtern selbstkritische Reflexionsprozesse zugänglich macht.

Eine weitere Herausforderung wird die Gestaltung der Transferprozesse sein. Zentrale Fragen hierbei sind:

  • Wie können Ergebnisse sinnvoll aufbereitet werden, damit sie auch Fachkräften zugänglich sind, die nicht persönlich an dem Prozess beteiligt waren?
  • Wie können die Erkenntnisse aus Fallanalysen auch anderen Jugendämtern zur Verfügung gestellt werden?
  • Wie können aus den Fallanalysen sinnvolle Konsequenzen für die Qualitätsentwicklung abgeleitet werden?

Mit dem Online-Workshop konnten Erfahrungen ausgetauscht werden, die sowohl den Bedarf alltagstauglicher Methoden zur Analyse von Fallverläufen verdeutlicht haben als auch Anforderungen, die bei der Entwicklung zu berücksichtigen sind.

Die Diskussionsinhalte und -ergebnisse fließen in den weiteren, zu Beginn des Workshops skizzierten, Prozess zur Entwicklung und Erprobung einer solchen Methode ein.