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Arbeit mit "unfreiwilligen Klientinnen und Klienten" im Kinderschutz

Das sechste "Fachgespräch Kinderschutz" des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) fand am 16. und 17. Oktober 2023 unter dem vollständigen Titel "Arbeit mit unfreiwilligen Klientinnen und Klienten im Kinderschutz. Fachliche Konzepte, Erfolgsfaktoren und Empfehlungen für die Kinderschutzpraxis" in München statt.

Rund 40 Expertinnen und Experten tauschten sich über verschiedene Aspekte zum Thema aus und erarbeiteten Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung der Arbeit mit Eltern im Kinderschutz.

Das NZFH hat dazu Vertreterinnen und Vertreter aus Jugendämtern, von freien Trägern, Verbänden und Fachgesellschaften, Repräsentantinnen und Repräsentanten der Verwaltung auf Landes- und Bundesebene sowie Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft eingeladen.

Ziel des Fachgesprächs war es, die Anforderungen an die Arbeit mit Eltern, die im Kinderschutz in der Regel unfreiwillig zu Adressatinnen und Adressaten der Jugendhilfe werden, herauszuarbeiten. Auf der Grundlage nationaler und internationaler empirischer Forschungsergebnisse diskutierten die Teilnehmenden, wie Eltern angemessen, qualifiziert und erfolgreich im Kinderschutz angesprochen und in Entscheidungen, die sie und ihr Kind betreffen, einbezogen werden können. Vor diesem Hintergrund wurden die Stärken und Schwächen der aktuellen Kinderschutzpraxis erörtert und Ideen für die Weiterentwicklung gesammelt.

Hintergrund

Professionelles Helfen im Zwangskontext gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben in der Sozialen Arbeit. Die oft von Drittpersonen initiierte Beratungsbeziehung stellt Fachkräfte vor die Herausforderung, Menschen, die nicht selbst den Kontakt zum Hilfesystem gesucht haben, für die Zusammenarbeit zu gewinnen.

Im intervenierenden Kinderschutz sind die Fachkräfte sowohl des öffentlichen Trägers (Jugendamt) als auch der freien Träger tagtäglich mit der Aufgabe konfrontiert, Eltern zu motivieren und für Veränderung zu gewinnen, um Kinder vor (weiteren) erheblichen Schädigungen zu bewahren. Sie müssen einerseits die Schutzinteressen des Kindes gewährleisten und den Fortschritt des Veränderungsprozesses in der Familie laufend überprüfen und andererseits den Eltern den Weg in eine tragfähige Beratungsbeziehung ebnen, damit diese sich mit all ihren Ängsten und Nöten anvertrauen und sich auf Beratung und Hilfe einlassen können. In diesem Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle gelingt es Fachkräften vor allem dann auf nachhaltige Veränderungen im Familienleben hinzuwirken, wenn die Eltern eigene Veränderungsmotivation entwickeln. Eine verpflichtende Beratung, die aufgrund von Bedenken bezüglich der erzieherischen und fürsorgerischen Fähigkeiten der Eltern zustande kommt, kann es den unfreiwilligen Klientinnen und Klienten jedoch erschweren, eine eigene Problemeinsicht zu entwickeln und die erarbeiteten Lösungsstrategien als ihre eigenen anzunehmen.

Erkenntnisse aus Fallanalysen weisen darauf hin, dass der Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung häufig nicht gelingt. Die Gründe dafür sind vielfältig, vor allem aber scheinen Konzepte und Tools für die Arbeit mit unfreiwilligen Klientinnen und Klienten weder in der Aus- und Fortbildung noch in der Praxis flächendeckend verbreitet zu sein. Insofern verwundert es nicht, dass eine zwischen 2018 und 2019 durchgeführte Befragung des Deutschen Jugendinstituts e. V. (DJI) in Kooperation mit dem NZFH von über 1.400 ASD-Mitarbeitenden in Baden-Württemberg gezeigt hat, dass die Fachkräfte unabhängig von ihrer Berufserfahrung in diesem Bereich hohen Unterstützungsbedarf signalisieren. 43 Prozent der befragten Fachkräfte wünschen sich mehr Unterstützung beim Thema Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung und 48 Prozent speziell bei schwierigen Gesprächen mit Eltern.

Begrüßung

Das Fachgespräch wurde eröffnet von Privatdozentin Dr. habil. Christina Boll, Leiterin der Abteilung Familie und Familienpolitik im DJI, Jörg Backes, stellvertretender Leiter des NZFH in der BZgA, sowie Almut Hornschild, Leiterin des Referats Kinderschutz, Prävention sexueller Gewalt, Bundesstiftung Frühe Hilfen im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).

Bedeutung von und Qualitätsentwicklungsbedarf in der Arbeit mit Eltern im Kinderschutz

Mit ihrem Impulsvortrag führte Christine Gerber, Leiterin des Projekts Qualitätsentwicklung im Kinderschutz im NZFH, DJI, in das Thema und seine Bedeutung für die Qualitätsentwicklung im Kinderschutz ein. Sie stellte zentrale Erkenntnisse aus insgesamt 18 Fallanalysen zur Arbeit mit Eltern im Kinderschutz vor. Im Mittelpunkt standen dabei die Ursachen, warum der Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zu den Eltern häufig nicht gelingt. Neben Lücken in der Qualifikation der Fachkräfte hob sie Case Management Konzepte in Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) und das damit einhergehende abnehmende Verständnis von umfassender Beratung sowie den "schlechten Ruf" der Jugendämter als zentrale Einflussfaktoren hervor. Ausgehend von diesen Erkenntnissen plädierte sie unter anderem für die (Weiter-)Entwicklung von Schulungs- und Trainingsprogrammen für Fachkräfte und die Schaffung der notwendigen institutionellen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel ausreichend zeitliche Ressourcen sowie geeignete Räumlichkeiten für die Arbeit mit den Eltern.

Empirische Befunde zur sozialarbeiterischen Praxis in England

Im Anschluss trug Professor Dr. Donald Forrester, Direktor des CASCADE Centre for Children’s Social Care an der Universität Cardiff, seine Forschungsergebnisse zur Sozialen Arbeit mit Kindern und Familien vor. In seinem Vortrag wurde deutlich, dass, auch wenn Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter danach streben, Familien und Kindern zu helfen, dies bei der Zielgruppe nicht immer als "Hilfe" ankommt. Um dem entgegenzuwirken, sollte der Fokus der Fallarbeit verstärkt auf den Hilfeprozess und die Beziehungsgestaltung gelegt werden. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie konkret mit Kindern und Familien gearbeitet wird. Prof. Dr. Forrester empfahl die Methode des Motivational Interviewing, die Fachkräfte dabei unterstützt, herausfordernde Gespräche, beispielsweise mit unfreiwilligen Klientinnen und Klienten, erfolgreich zu führen.

Einbezug von Eltern an der Gefährdungseinschätzung

Professor Dr. Heinz Kindler, Leiter der Fachgruppe Familienhilfe und Kinderschutz am Deutschen Jugendinstitut e.V., verdeutlichte in seinem Impulsvortrag, weshalb die Beteiligung von Eltern von großer Bedeutung für den Erfolg im Kinderschutz ist. Er präsentierte verschiedene Studien, die unter anderem einen internationalen Vergleich hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft der Eltern in Kinderschutzverfahren aufzeigten. Außerdem wurden mögliche Abwehrstrategien von Klientinnen und Klienten vorgestellt und anschließend im Plenum diskutiert.

Evaluation des Signs of Safety Projekts in England

Dr. Mary Baginsky, Dozentin für Social Care am King´s College London, leitete zwei Evaluationen von Signs of Safety (SoS) - ein stärkenbasierter Ansatz für die Arbeit mit Familien im Kinderschutz - in zwei Behörden in England, deren Ergebnisse sie im Rahmen des Impulsvortrages präsentierte. Es erfolgte zunächst ein Überblick über die Einführung von SoS. Die Evaluation zeigte, dass die SoS-Verfahren nicht konstant beziehungsweise konsequent durchgeführt wurden, was sich auch auf die Ergebnisse in der Arbeit mit den Eltern auswirkte. Dr. Mary Baginsky betonte darüber hinaus in ihrem Vortrag, dass es neben guten Konzepten auch auf die Erfahrung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, eine stabile Belegschaft, überschaubare Fallzahlen sowie eine verbindliche Supervision ankommt. In der abschließenden Diskussion wurde zudem die Beziehungsgestaltung und die Haltung der Fachkräfte als Wirkfaktor für einen erfolgreichen Hilfeprozess herausgearbeitet.

Auswirkungen von Rassismus und Diskriminierung auf den Zwangskontext im Kinderschutz

Der zweite Tag des Fachgesprächs startete mit dem Impulsreferat von Professorin Dr. Birgit Jagusch vom Institut für Diversität und Migration der TH Köln. Birgit Jagusch beschäftigte sich in ihrem Input mit der Frage, wie sich Rassismus und Diskriminierung von Familien mit Migrationsgeschichte auf die Kinderschutzarbeit auswirken. Sie verwies darauf, dass rassistische und diskriminierende Erfahrungen im institutionellen Kontext zu einem Systemvertrauensverlust führen können. Professorin Dr. Birgit Jagusch plädierte deshalb dafür, dass es auf institutioneller Ebene eine kritische Reflexion der Haltungen sowie die Überarbeitung von Strukturen und Konzepte bedarf, um einen migrationssensiblen Kinderschutz sicherzustellen.

Einbezug von Vätern und männlichen Bezugspersonen im Kinderschutzverfahren

Dr. Birgit Jentsch, wissenschaftliche Referentin im Projekt Qualitätsentwicklung im Kinderschutz des NZFH, DJI, befasste sich zunächst mit den gesetzlichen, fachlichen und ethischen Gründen, warum männliche Bezugspersonen ähnlich wie Mütter im Kinderschutz einbezogen werden müssen. Sie wendete sich dann den Erkenntnissen internationaler Studien zu, die darauf hinweisen, dass Väter oft nicht oder nur unwesentlich in Kinderschutzverfahren einbezogen werden. Sowohl diese Studien als auch NZFH-Fallanalysen zeigen mögliche Einflussfaktoren auf, die zum mangelnden Einbezug beitragen, zum Beispiel fehlende Schulungen und ungeeignete beraterische Strategien der Fachkräfte in der Arbeit mit (gewalttätigen) Männern, sowie die kulturelle Priorisierung der Mutter-Kind-Beziehung. Der Vortrag schloss mit Empfehlungen für Verbesserungsmöglichkeiten auf Organisations- und Fachkräfteebene ab.

Zentrale Themen der Diskussion und Ergebnisse für die Weiterentwicklung im Kinderschutz

Im Verlauf der zweitägigen Veranstaltung diskutierten die Teilnehmenden auf der Grundlage der Impulsreferate in Kleingruppen und im Plenum sowohl die Stärken und Schwächen der aktuellen Praxis als auch konkrete Empfehlungen für die Qualifizierung der Arbeit mit Eltern im Kinderschutz.

Folgende vier zentrale Ergebnisse des Fachgesprächs wurden festgehalten:

Praxismaterial und Literatur

Aufbauend auf Hinweisen der teilnehmenden Expertinnen und Experten wurden Veröffentlichungen und Materialien zur Thematik zusammengetragen (Stand November 2023). Die Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und wird nicht aktualisiert.

Weitere Informationen auf fruehehilfen.de

Publikationen zum Kinderschutz

Erkenntnisse aus Forschung und Praxis zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz an der Schnittstelle zu Frühen Hilfen

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