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"Wir können dabei nur gewinnen"

Professor Dr. Jörg Fischer stellt in der 8. Ausgabe der Online-Reihe "Impulse zur Netzwerkarbeit" die Bedeutung der politisch-strukturellen Verankerung Früher Hilfen vor. Im Interview fasst der Autor wichtige Punkte der Publikation, deren Herausgeber das NZFH ist, zusammen. Auszüge des Gesprächs sind im Infodienst Frühe Hilfen aktuell, Ausgabe 1/2023 erschienen.

Warum ist es wichtig, dass Frühe Hilfen politisch-strukturell in der Kommune verankert sind?

Frühe Hilfen kamen aus einer modellhaften Förderung und jetzt sind sie in einer Regelförderung durch den Bund. Das heißt aber noch nicht, dass sie auch vor Ort im Bewusstsein vor allem bei Leitung und Politik angekommen sind. Eine Idee kann noch so gut, ein Ansatz kann noch so wirksam sein - wenn er nicht vor Ort in den Strukturen verankert ist, wenn die politischen Entscheiderinnen und Entscheider nicht wissen, dass es ihn gibt und was von ihm zu halten ist, ist keine Nachhaltigkeit gesichert. 

Frühe Hilfen funktionieren nur dann, wenn sie vor Ort verankert sind. Man braucht Zugangsmöglichkeiten zu den Zielgruppen, die Erreichbarkeit der Familien. Frühe Hilfen können nicht national gedacht werden, nicht auf Länderebene, sondern sie müssen vor allem auf kommunaler Ebene gedacht und umgesetzt werden, weil dort die Lebenswelt junger Eltern mit ihren Kindern ist. 

Was können Frühe Hilfen kommunalpolitisch erreichen?

Ein bemerkenswerter Ansatz von Beteiligung und ein niedrigschwelliger Zugang zu Eltern zeichnen die Frühen Hilfen aus. Wenn sie gut aufgestellt und gut im politischen System vor Ort verankert sind, kann es gelingen, von Beginn an eine gute Verbindung von jungen Eltern zu ihrer Kommune, ihrem Landkreis zu erreichen. Durch Ansätze wie den Willkommensbesuch wird ein ganz anderer Ton gesetzt im Umgang miteinander. Es wird von Anfang an ein Bezug auf Augenhöhe mit den einzelnen Menschen gesucht. Das kennzeichnet den besonderen Zugang der Frühen Hilfen. Man kommt an Menschen ran, die sich anderen Zugängen eher verschließen würden, aus einem positiven Anlass heraus wie der Geburt eines Kindes und nicht primär auf Basis eines Problems. 

Welchen Mehrwert können Frühe Hilfen den Kommunen bringen?

Die Kommunen können von den Frühen Hilfen lernen: Auf der einen Seite inhaltlich. Vor Ort wird ein guter Einstieg in des Unterstützungssystem gewährt. Zum anderen gibt es auch einen methodischen Mehrwert für die Kommunen: die Netzwerkidee, die jetzt in ganz Deutschland verankert ist. Sie hat sich als so positiv erwiesen, dass ich nur den Entscheiderinnen und Entscheidern vor Ort rate: Leute, lernt von diesen Frühen Hilfen! Ihr könnt etwas lernen, was auch in anderen Feldern hilft, etwa bei der Vernetzung zwischen Jugendhilfe und Schule, der sozialräumlichen Ausgestaltung mit Kindertagesstätten oder im gelingenden Übergang von Kindertagesstätte in die Schule. Ich bezeichne die Frühen Hilfen immer als einen kleinen Schatz. Oft ist den politischen Entscheiderinnen und Entscheidern gar nicht bewusst, was sie da für einen Schatz in den Händen halten. Ich rate ihnen: Nutzt diesen Schatz, maximiert ihn auch in anderen Bereichen, schätzt ihn wert. Sie können so an Probleme und Entwicklungen in der Kommune herankommen, da sind die Frühen Hilfen wie ein Seismograf. Und sie kommen auch frühzeitig an Potenziale heran, die man womöglich noch gar nicht im Blick hatte. Wir können das zivilgesellschaftliche Sozialkapital nutzen und einbinden.

Ein Narrativ, sagen Sie, kann die politisch-strukturelle Verankerung fördern – ein Beispiel?

Politische strukturelle Verankerung vor Ort funktioniert vor allem dann, wenn Leitungskräfte und politische Entscheiderinnen und Entscheider mit diesem Netzwerk Frühe Hilfen etwas anfangen können. Mit Blick auf die Generationen und mit Blick auf den inhaltlichen Bezug fällt es manchen schwer, sich etwas unter dieser neuen Vernetzung zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitsamt vorzustellen. Und dann hilft es tatsächlich, wenn man bestimmte Geschichten parat hat, Narrative, Stories, die dabei helfen. Wenn man darstellt: Mit Frühen Hilfen kommt man an Zielgruppen heran, kommt man in Situationen hinein, wo sonst jede Hilfe versagen würde. 

Ich nenne mal ein Beispiel: Ich hatte im Rahmen einer Kommunalberatung mit einem Landkreis zu tun. Die Koordinatorin der Frühen Hilfen erzählte, dass bei ihr eine junge Frau angerufen hätte in dem Glauben, dass die Koordinatorin nicht Teil des Jugendamts ist. Sie wollte mit dem Jugendamt keinen Kontakt haben. Diese Frau hatte ihre Schwangerschaft der Umgebung verheimlicht und die Geburt auch selbst im Geheimen durchgeführt. Nun wusste sie nicht, was mit dem Neugeborenen geschehen könnte. In dieser Notsituation hat sie Hilfen in Anspruch nehmen wollen, aber nicht von den etablierten Strukturen, so kam sie auf die Netzwerkkoordinatorin.

Diese Geschichte habe ich im Jugendhilfeausschuss wiedergegeben. Das war so ein Zugang, wo vielen klar war: Wir können mit den Frühen Hilfen etwas erreichen, was wir über den Kinderschutz nicht erreichen können, was wir mit allgemeinen Angeboten nicht erreichen können. Da springen die Frühen Hilfen in eine Lücke und füllen diese Lücke hervorragend aus. Ich kann nur raten, Bilder zu entwickeln, dass Menschen, die sonst wenig damit zu tun haben, etwas damit anfangen können: Jungen Eltern in einer neuen Situation Hilfe gewähren. 

Das wird an Frühen Hilfen geschätzt, dass sie nicht mit viel Bürokratie verbunden sind und man sich wertgeschätzt fühlt. Das kriegen wir immer wieder aus den Evaluationen mit. Wir sehen, wie hochwillkommen und wie gut angenommen zum Beispiel die Willkommensbesuche in der Regel sind. 

Geht der Auftrag, aktiv zu handeln, bevorzugt an die Netzwerkkoordination?

Das ist eine spannende Frage. Ich muss da ein bisschen weiter ausholen. Der Erfolg eines Netzwerks ist nicht allein von der Netzwerkkoordination abhängig. Der Erfolg eines Netzwerks bestimmt sich durch das Zutun aller Partnerinnen und Partner. Das bedeutet, dass dieser Auftrag, proaktiv zu handeln, zu dem ich unbedingt anrege, generell an alle Mitglieder im Netzwerk geht. Und das Proaktive möchte ich dreimal unterstreichen, denn ich glaube, dass die Beteiligten in den Netzwerken Frühe Hilfen Expertinnen und Experten für die Lebenslagen von jungen Eltern sind, für das Aufwachsen der ganz jungen Generation, und dass sie frühzeitig auf bestimmte Befunde hingewiesen werden, die von großer Bedeutung sind.

Aufgabe der Netzwerkkoordination ist es, zum Prozess anzuregen, zu initiieren dann auch dranzubleiben, aber es ist nicht Aufgabe der Netzwerkkoordination, diese proaktive Umsetzung allein zu bewältigen, das würde sie auch gar nicht schaffen. Es ist die Aufgabe des ganzen Netzwerks. Es bedarf aus meiner Sicht einer abgestimmten Vorgehensweise im ganzen Netzwerk, wer sich in welcher Situation und aus welcher Perspektive heraus an wen wenden kann. Dabei zählen nicht nur die formellen Zugänge, etwa in die Ausschüsse, in die Parteien hinein, sondern eben auch die persönlichen, die informellen Zugänge zu Entscheidungsträgern, auch aus einer eigenen Bürgerrolle heraus. Wir müssen bewusst variable Zugänge suchen und halten. Es geht letztlich immer darum, eine persönliche Form von Betroffenheit bei den Menschen zu erzeugen, die über die Zukunft Früher Hilfen mitbestimmen.

Wo liegt das Transferpotenzial in andere Handlungsfelder?

Wie schon gesagt, sehe ich einerseits das inhaltliche Transferpotenzial eines bestimmten Menschbildes und die gleichberechtigte Begegnung auf Augenhöhe. Strukturell-methodisch halte ich es für ein ganz großes Glück, dass es gelungen ist, diese Bundesinitiative in Regelstrukturen zu überführen. In ganz Deutschland gibt es Netzwerke, überall gibt es mittlerweile gut ausgebildete Netzwerkkoordinatorinnen und -koordinatoren. Das Ganze wird fachlich gesteuert und begleitet von Landeskoordinationen in den Ministerien, damit haben wir einen guten Rückfluss auf Landesebene. Es gibt das NZFH, das die Frühen Hilfen vor Ort wissenschaftlich begleitet und auch den Transfer auf die Bundesebene leistet, dazu die Bundesstiftung Frühe Hilfen.

Was ich merke, ist, dass auf Fachkräfteebene ganz viel passiert ist. Ich würde mir wünschen, dass dieses Potenzial von den Leitungskräften, von kommunaler Politik von Landespolitik, von Bundespolitik noch viel mehr gewürdigt wird. Denn ich bin der festen Überzeugung, dass die Frühen Hilfen nicht Teil einer neuen Fragestellung sind, einer zusätzlichen Aufgabe. Hier sehe ich derzeit meine zentrale Aufgabe in der Begleitung von Landes- und Bundespolitik. Die Frühen Hilfen sind ein zentraler Teil, um Antworten auf bereits jetzt bestehende Probleme zu geben. Frühe Hilfen sind Teil der Lösung. Sie sind Lösungsanbieter.

Ihre Vision von der gesellschaftlichen Wirkmacht Früher Hilfen?

Ich würde mir ein System Früher Hilfen in Deutschland vorstellen, das allgemein anerkannt ist, das sowohl bei den alten Leitungen als auch in der Politik sowie der Gesellschaft einen entsprechenden Stellenwert einnimmt. Frühe Hilfen sind als ein Motor für gesellschaftliche Erneuerung und für kommunale Innovation zu begreifen, sowohl inhaltlich als auch methodisch. Und das heißt, dass andererseits die FH auch immer wieder mutig genug sind, sich nicht auf dem Erfolg auszuruhen, sondern weiterzumachen. 

Wir haben jetzt gerade auch den Beschluss für den nächsten Bundeshaushalt, in dem es ja leider nur zu einer leichten Erhöhung der Mittel kommen wird. Ich wünsche mir, dass wir uns davon nicht entmutigen lassen, sondern sagen: Wir sind von unserer Idee überzeugt, wir verfolgen diesen Weg einer dynamischen Entwicklung der Frühen Hilfen weiter.

Was mir auch wichtig ist: Die Frühen Hilfen haben sich in den letzten Jahren auch häufig ungefragt auf neue Herausforderungen eingelassen und haben begonnen, Antworten zu finden, als andere noch damit zu tun hatten, überhaupt das Problem zu verstehen. Zum Beispiel 2015, als wir mit einem verstärkten Zuzug von Flüchtlingen zu tun hatten. Ich war damals positiv überrascht, wie schnell kommunale Netzwerke reagiert und sich dieser Herausforderung gestellt haben.

Ähnliches hat sich in diesem Jahr im Februar/März 2022 wiederholt, wo viele Netzwerke sofort für sich erkannt haben: Da kommen nicht nur ukrainische Flüchtlinge, sondern da kommen Mütter mit Kleinkindern und die brauchen unsere Hilfe. Sie haben dann sofort angefangen, aus ihren Netzwerkstrukturen heraus staatliche öffentliche Unterstützung zu organisieren, aber eben auch gesellschaftliche Unterstützung. Auch deswegen bin ich ein Überzeugungstäter der Frühen Hilfen, weil sich gerade auch in Krisensituationen gezeigt hat, wie gut die damit umgehen können.

Die Pandemie war ein ähnliches Beispiel. Die Frühen Hilfen haben sich als pandemiefest erwiesen. Sie haben, im Gegensatz zu vielen Regelstrukturen, in massiver Form ihre mobilen Angebote ausgeweitet, haben trotzdem ihre Netzwerkstrukturen fortgesetzt und waren sehr nah dran an den Bedarfen der Familien. Leider ist es nicht gelungen, diese Bedarfe so in die Politik zu übertragen, dass auch Politik sich um die Probleme der Familien ausreichend genug gekümmert hätte. Das ist eine Lehre, die ich auch heute immer wieder in die Politik und auch in die Leitung zurückreiche. Ein besserer Umgang wäre möglich gewesen, es lag nicht an den Frühen Hilfen. 

Was können Sie den Netzwerken noch mit auf den Weg geben?

Es entsteht ja manchmal der Eindruck, dass politisch-strukturelle Verankerung noch so eine neue Aufgabe wird, der man sich wird widmen müssen. Ich kann nur sagen: Liebe Netzwerkpartnerinnen und -partner, diese politisch-strukturelle Verankerung ist auch für die Netzwerke selbst ein Mehrwert. Wir können dabei nur gewinnen, und wir sollten ja alle selbst Interesse daran haben, dass es die Frühen Hilfen auch langfristig vor Ort gibt. Es geht nicht darum, das ganze Paket sofort im Blick zu haben, sondern durch konkretes Tun etwas zu bewirken. Dann kommt doch schnell eine Rückmeldung aus der Gesellschaft, aus der Politik, ob das angemessen ist oder nicht. Ich rate dazu: Just do it! Fangt an, fangt im Kleinen an und entwickelt das weiter und kommt nicht gleich mit einem Riesenkonzept.

Lernt durch die Umsetzung. Das ist ein "Learning by doing", Fühler ausstrecken und einfach mal probieren. Öffnet euch, geht nach draußen, probiert euch aus, nutzt dazu fachliche Begleitung durch das NZFH und solche Leute wie mich, die im Beirat tätig sind. Ich bin zutiefst von den Frühen Hilfen überzeugt, aber wir dürfen nicht davon ausgehen, dass alle in der Gesellschaft gleichermaßen wissen, wie toll die Frühen Hilfen sind. Wir sollten allen anderen die Chance geben, das auch zu erfahren. 

Es gilt der alte Satz: Es reicht nicht, Gutes zu tun, sondern man muss auch in der Lage sein, gut darüber reden zu können. Heute strömen so viele Informationen auf uns alle ein und deswegen müssen wir sehr genau mit guten Narrativen, mit guten Argumenten auf die Gesellschaft, auf die Politik und auf die Verwaltung zugehen, um sie zu überzeugen.