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Beschluss der JFMK 2009: Regelungslücken an der Schnittstelle zwischen SGB V und SGB VIII

In Umsetzung des Auftrags der JFMK und der GMK werden im Folgenden die Regelungslücken insbesondere an der Schnittstelle von SGB V und SGB VIII identifiziert, die dem allgemeinen Ziel im Kinderschutz entgegenstehen, präventive Hilfen und bei Bedarf Interventionen in Kinderschutzfällen rechtzeitig und zielgerichtet zu gewährleisten. Die Reihenfolge orientiert sich dabei an den wesentlichen Lebensphasen

  • vor der Geburt,
  • im Zusammenhang mit der Geburt und unmittelbar danach sowie
  • im Alter zwischen 6 Monaten und 3 Jahren:
  1. Ein präventiver Kinderschutz muss - wenn er wirksam sein soll - in vielen Fällen bereits vor der Geburt eines Kindes ansetzen. Die Erfahrung zeigt, dass gerade in der Zeit der Schwangerschaft werdende Eltern eine Beratung und Unterstützung für die Überwindung von Risiken und Gefährdungen in gesundheitlicher und erzieherischer Hinsicht erwarten und die Jugendhilfe hier mit ihren Angeboten ansetzen muss. Entsprechende Angebote sollen an die werdenden Eltern herangetragen werden, da die Komm-Struktur in der Regel bei diesen Familien nicht wirksam ist. Das SGB VIII enthält hierfür bisher keine hinreichende Regelung. Zwar kann § 16 SGB VIII für besondere Einzelfälle herangezogen werden, bedeutsam ist jedoch, dass ein eindeutiger Gesetzesauftrag für diese Tätigkeit erreicht wird. Hier wird Handlungs- und Regelungsbedarf gesehen.

  2. Die Hebammenleistungen sind bisher noch immer in der alten Reichsversicherungsordnung (RVO) geregelt. Hebammenleistungen wirken präventiv und gesundheitsfördernd für das Neugeborene, die Mutter und den Vater. Sie sollen als Leistungen im SGB V eingeführt werden.

  3. Damit Hebammen das dafür notwendige Vertrauensverhältnis zu den Müttern, Vätern und Eltern aufbauen können, brauchen sie mehr als die bisher in der Regel finanzierten acht Wochen. Die Regelzeit ist im Sinne einer vorsorgenden Gesundheitshilfe auf bis zu sechs Monate zu erweitern.

  4. Für integrierte frühe Hilfen ist es sinnvoll, Leistungen aus einer Hand anzubieten. Gegenwärtig ist es aber nicht möglich, dass Träger der frühen Hilfen sowohl Hebammenleistungen als auch sozialpädagogische Hilfen nach dem SGB VIII anbieten, da die Leistungen angestellter Hebammen den Trägern von den Krankenkassen nicht erstattet werden. Durch eine entsprechende Änderung des SGB V sollte die Möglichkeit dazu geschaffen werden.

  5. Im Rahmen einer erweiterten Gesundheitsförderung sollen Hebeammen die Möglichkeit haben, aufsuchend und im Sinne einer gesundheitlich orientierten Familienförderung unterstützend und fördernd tätig zu werden. Dabei sollen sie insbesondere Mütter, Väter und Eltern in prekären Lebensverhältnissen und Familien in Risikosituationen erreichen. Im Rahmen der Auswertung der laufenden Modellvorhaben ist zu klären, welche Reglungsbedarfe bestehen, damit die erweiterte Gesundheitsförderung unter Berücksichtigung der Stärkung der Familien- und Erziehungskompetenz der Eltern in die regulären Leistungen überführt werden kann.

  6. Derzeit haben die gesetzlichen Krankenkassen keine Möglichkeit, im Rahmen von Versorgungsforschung gezielt Projekte im Bereich der "frühen Hilfen" zu unterstützen und zu fördern. Hier gilt es zum Einen die Regelungen zur Prävention und Gesundheitsförderung (§ 20 ff SGB V) und zum Anderen die Regelungen zur Ermöglichung von Modellprojekten (§ 63 SGB V) fortzuentwickeln.

  7. Um Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, beginnen Geburts- und Kinderkliniken, die Anamnese bei der Aufnahme von Müttern und Kindern um sozialmedizinische Fragen zu erweitern, um dann mit den Müttern, Vätern oder Eltern mit spezifischen sozialen Belastungen ein psychosoziales Beratungsgespräch zu führen. Es gilt diese sozialmedizinischen und sozialpädiatrischen Leistungen als Aufgabe der Krankenhäuser gesetzlich abzusichern, damit eine Finanzierung dieser Leistungen im Rahmen des DRG-Systems möglich wird.

  8. Es ist eine engere Zusammenarbeit zwischen der Jugendhilfe und den Geburtsund Kinderkliniken bei den Anamnese-Verfahren und bei der anschließenden Beratung von Müttern, Vätern oder Eltern erforderlich. Zu prüfen ist, ob dafür Vereinbarungen über die Zusammenarbeit oder verbindliche Regelungen für eine Kooperation zwischen den örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe und den Geburts- und Kinderkliniken sinnvoll sind.

  9. Bei der Weiterentwicklung des Leistungskatalogs für Hebammen und andere Leistungserbringer ist zu prüfen, ob diese Leistungen als Komplexleistung verschiedener Sozialleistungsträger finanziert werden können.

  10. In den letzten Jahren haben sich in verschiedenen Regionen Netzwerke gebildet, die mit gut geschulten, ehrenamtlich tätigen Personen oder mit Fachkräften einen wesentlichen Beitrag zur Unterstützung und Entlastung von Schwangeren, Müttern und Familien leisten. Insbesondere der präventive Hausbesuch in der Lebenswelt des Kindes ist ein sehr geeignetes Instrument, um die gesundheitliche Entwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren nachhaltig zu fördern. Um diese präventiven Leistungen regionaler Netzwerke finanziell abzusichern und den Aufbau weiterer regionaler Netzwerke zur Förderung der Gesundheit und des Wohls von Kindern zu ermöglichen, ist eine gesetzliche Regelung im Sozialgesetzbuch V unerlässlich, welche die Krankenkassen zu einem angemessenen Zuschuss zu den von diesen Netzwerken erbrachten präventiven Leistungen verpflichtet.

  11. Die Kinder- und Jugendhilfe entwickelt in diversen Modellprojekten gute Instrumente, um Eltern und Kinder früh auch dann zu helfen, wenn die Voraussetzungen für eine Hilfe zur Erziehung nicht bestehen. Diese "frühen Hilfen" integrieren Ansätze der aufsuchenden Hilfe, der Familienbildung und -förderung, der Erziehungsberatung und der sozialpädagogischen Familienhilfe. Zu prüfen ist ob dafür eine Regelung im SGB VIII erforderlich ist.

  12. Ärztliche Untersuchungen zur Befunderhebung bei Verdacht auf Misshandlungen ohne Vorliegen einer Strafanzeige, sog. Verdachtsuntersuchungen, sind derzeit nicht über das SGB V abrechnungsfähig. Das bedeutet, dass Untersuchungen auf alleinigen Wunsch der Misshandlungsopfer (oder ihrer Eltern) nicht ohne Einschalten der Ermittlungsbehörden finanziert werden. Um eine niedrigschwellige und dennoch qualifizierte medizinische Opferuntersuchung gewährleisten zu können, sind für Verdachtsuntersuchungen Finanzierungswege zu schaffen.

  13. Auch im Bereich des § 294a SGB V ("[…] liegen Hinweise auf drittverursachte Gesundheitsschäden vor, sind die Vertragsärzte, ärztlich geleiteten Einrichtungen und die Krankenhäuser nach § 108 verpflichtet, die erforderlichen Daten, einschließlich der Angaben über Ursachen und den möglichen Verursacher, den Krankenkassen mitzuteilen […]") wären Änderungen zur Verbesserung des Kinderschutzes zu erwägen. In der geltenden Fassung führt die Vorschrift zu einer weitgehenden Nichterfassung von Kindeswohlgefährdungen in medizinischen Statistiken, weil Ärzte verhindern wollen, dass die Krankenkassen die übermittelten Daten an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben. Die bisherigen Erkenntnisse des Projekts "Guter Start ins Kinderleben" haben einen entsprechenden Änderungsbedarf sehr deutlich gemacht.

  14. Arbeitsgemeinschaften haben sich als wichtiges Instrument zur Kooperation und Abstimmung der Akteure im Kinderschutz erwiesen. Das SGB VIII sieht die Zusammenarbeit der Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit anderen Stellen oder öffentlichen Einrichtungen, deren Tätigkeit sich auf die Lebenssituation junger junger Menschen und ihrer Familien auswirkt, ausdrücklich vor. Dabei ist auch das Gesundheitswesen genannt. Insofern besteht eine Verpflichtung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, entsprechende Ressourcen für diese Arbeitsgemeinschaften bereitzustellen. Bisher fehlt eine dem § 81 SGB VIII entsprechende Regelung im SGB V, was die Entwicklung der Zusammenarbeit erheblich erschwert.

  15. Um präventive Maßnahmen zum Kinderschutz ausbauen zu können, sind entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen erforderlich. Daher wird weiterhin die Notwendigkeit für das in der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung vorgesehene Präventionsgesetzes gesehen. Die Länder haben mehrfach den Handlungsbedarf zum Ausdruck gebracht, zuletzt mit dem GMKBeschluss der 81. GMK 2008 (TOP 10.2: Stärkung und Weiterentwicklung von Prävention und Gesundheitsförderung). Es sollte weiter daran gearbeitet werden, eine politische Verständigung über ein Präventionsgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zu erzielen.