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Fehlerkultur im Kinderschutz – Sind wir schon gut aufgestellt?

Vortrag von Dr. Astrid Schreyögg, Dipl. Psychologin

Die Fehlerdebatte hat ihren Ursprung in Hochsicherheitssystemen wie der Flug- und Atomindustrie. Als optimal gilt, wenn in einem System von allen Beteiligten Fehler nicht etwa vertuscht, sondern offensiv analysiert und als Ausgangspunkt für positive Veränderungen genutzt werden. Vor diesem Hintergrund warf Dipl. Psychologin Dr. Astrid Schreyögg einen kritischen Blick auf die Fehlerkultur im Kinderschutz und diskutierte die Frage, wie eine Verbesserung derselben erzielt werden kann. Wird die Fehlerkultur als Systemphänomen betrachtet, sollte die Ursachenforschung viel breiter angelegt werden.

Wenn wir über Fehlerkultur im Kinderschutz reden, geht es zunächst um die Fragen,

  • welche Haltung wir grundsätzlich gegenüber Fehlern haben,
  • was unter „Fehlerkultur“ zu verstehen ist und
  • welche Bedeutung Fehlerkultur im Kinderschutz hat bzw. haben kann.

Dabei muss uns interessieren,

  • welche Einflüsse in diese Kultur einfließen,
  • wie wir die Einflüsse zu bewerten haben und
  • an welche Möglichkeiten der Verbesserung zu denken ist.

1. Die Bedeutung von Fehlern in unser aller Lebensvollzügen

Fehler sind fraglos eine unschöne Erscheinung. Warum soll man sich denn überhaupt mit ihnen beschäftigen? Zwar musste man sich schon von alters her notgedrungen mit Fehlern auseinandersetzen, eine besondere Bedeutung erhielten sie aber erst seit der Industrialisierung, denn nun konnten Fehler des Materials, der Gerätschaften oder der Konstruktion von Maschinen unübersehbar gefährliche Folgen für Menschen haben. Aus diesem Zusammenhang resultierte eine Vielzahl technischer Prüfverfahren, die in etlichen Disziplinen an technischen Universitäten gelehrt wurden und werden. Manche Techniker richteten ihr Augenmerk allerdings auch auf die Menschen, die mit der Konstruktion, der Produktion und der Bedienung von Maschinen betraut waren. Hierbei fielen natürlich auch vielfältige Fehler auf, die den Betreffenden (zumeist) unwillentlich unterlaufen waren.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts widmete sich Sigmund Freud gerade dieser Fehlerquelle in ganz besonderer Weise. Denn Fehler, über die Menschen selbst nur begrenzt verfügen können, entstammen, wie Freud meinte, dem Unbewussten. Als „Fehlleistungen“ beschrieb er von den Betreffenden nicht beabsichtigte Fehler, die aus unverarbeiteten Traumata resultierten (Freud 2009). Im Verlauf des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich dann auch zunehmend Pädagoginnen und Pädagogen mit Fehlern im schulischen Bereich. Sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Pädagogik ergab sich jetzt eine paradoxe Haltung gegenüber Fehlern: Es bestand nämlich die Vorstellung, dass gerade Fehler für die individuelle Entwicklung wichtig sind. Freud nutzte beispielsweise die Fehlleistungen seiner Patientinnen und Patienten, um unbewusste Strebungen aufzudecken und zu bearbeiten. Und die pädagogische Psychologie (z.B. Oser & Spychinger 2005) begann jetzt Fehler als wichtige Lernquelle etwa für das mathematische Lernen zu nutzen.

Im Gegensatz zu dieser positiven Sicht von Fehlern begann man im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre in Hochsicherheitsmilieus, wie dem Flugverkehr, der Atomindustrie usw., systematische Fehlerkontroll- bzw. Fehlervermeidungsstrategien zu entwickeln. So konnte man beispielsweise in den USA die Todesrate im Flugverkehr trotz einer enormen Steigerung der Passagierzahlen radikal senken (Helmreich 1984). Hier wie auch beispielsweise in der Chemieindustrie wurden jetzt alle Arbeitsvollzüge akribisch beobachtet und notiert. Dabei differenzierte man zunehmend zwischen Unfällen und Beinahe-Unfällen. So notierte man etwa in Chemielaboren als „Beinahe-Unfall“ eine Situation, in der ein Mitarbeiter mit einer gefährlichen Flüssigkeit stolperte, auch wenn er dabei keinen Schaden nahm. Man ging aber davon aus, dass er sich beim nächsten Mal verätzen könnte, weshalb man schon jetzt diesen Beinahe-Fehler notierte, sodann die Ursache des Stolperns zu beseitigen suchte. Diese Beinahe-Unfälle galten nun grundsätzlich als Indikatoren für spätere Unfälle. So notierte man etwa im Flugverkehr eine Fehlerrate von 10% beim Ablesen der Geräte und bei gefährlichen Ereignissen unter Stress sogar 25%, ohne dass es zu Unfällen kam. In diesem Zusammenhang differenzierte man latente Fehler, kritische Ereignisse, Beinahe-Komplikationen und aktive Fehler.

Im Verlauf der Fehlerforschung konstatierte man immer häufiger „Fehlerkumulierung“, d.h. das Zusammentreffen von unterschiedlichen Fehlern (Brandl 2012). Als ein typisches Beispiel wird hier immer wieder der Untergang der Titanic genannt: Es begann mit einem strategischen Fehler, denn es gab zu wenige Rettungsboote. Dann ignorierte der Kapitän das Packeis, weil er die Titanic für unsinkbar hielt. Außerdem wollte er einen Geschwindigkeits rekord aufstellen. Im Übrigen gab es kein passendes Fernglas, mit dem sich das Ausmaß des Eisberges bestimmen ließ. Und schließlich vollendete der Erste Offizier die Katastrophe, indem er den Befehl gab, das Schiff mit Volldampf zu drehen, so dass der Eisberg unter der Wasseroberfläche die eine Seite des Schiffes vollständig aufschlitzen konnte.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde auch in der Soziologie eine Debatte über die generelle Fehleranfälligkeit der Gegenwartsgesellschaft (Beck 1986) geführt. Diese manifestiere sich allerdings nicht nur in technischen Milieus. Vielmehr gehöre sie durch die enorme Komplexität aller Lebensvollzüge, die niemand mehr vollständig durchschauen kann, in vielen Lebensbereichen zu unserem Alltag.

2. Fehlerkultur als kollektives Phänomen

Im Verlauf der Fehlerdebatte im Flugverkehr fiel bereits auf, dass manche Nationalkulturen in besonderer Weise fehleranfällig sind. So ereigneten sich beispielsweise in der Koreanischen Flugindustrie besonders viele Flugzeugabstürze. Nach einer eingehenden Untersuchung stellte sich heraus, dass hier aufgrund der nationalen Normen ein Ko-Pilot dem ranghöheren Piloten, selbst wenn er einen gravierenden Fehler bemerkt, niemals ins Steuer greifen würde. Genau das erwies sich übrigens als grundsätzliche Fehlerquelle im Flugverkehr. Die Unfallrate der Korean Airline reduzierte sich erst, als die Ko-Piloten ausführlich geschult wurden, ihre Ehrfurcht vor dem Ranghöheren abzulegen und ihre Rolle als Korrektiv auszufüllen (Brandl 2012).

In den 1980er Jahren tauchte dann in den Wirtschaftswissenschaften der Begriff der „Organisationskultur“ auf. Peters & Waterman, zwei Mitarbeiter von McKinsey, beschrieben 1983 Firmen aus einer völlig neuen Sicht: Sie postulierten, dass Firmen ähnlich kleinen Indianer- oder Südseestämmen eine ganz eigene Kultur entfalten, die sie deutlich von anderen Firmen unterscheidet. Sie nannten das Phänomen „organizational culture“. Dabei hat der Begriff „culture“ nicht die abendländische Bedeutung von Kultur im Sinne anspruchsvoller Kunstwerke, sondern es handelt sich um einen kulturanthropologischen Begriff. „Organisationskultur“ galt ab jetzt als das von allen Organisationsmitgliedern im Verlauf der Organisationsentwicklung gemeinsam entwickelte und sodann gemeinsam geteilte Sinnsystem.

Edgar Schein (1995), ein bekannter US-amerikanischer Sozialpsychologe, nahm sich des Begriffs im Weiteren aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive an. Er schlug vor, das nur schwer fassbare Phänomen mit Hilfe kulturanthropologischer Konzepte zu strukturieren. Im Verständnis phänomenologischer Soziologie (Berger & Luckmann 1969) ist ohnedies jedes Unternehmen, jede Klinik usw., ein soziales System, das eine je eigene Realität kreiert. Über tagtägliche Interaktionen bilden sich bei den Organisationsmitgliedern spezifische Sicht- und Handlungsweisen heraus, die zu kognitiven Strukturierungsmustern gerinnen. Dabei entfaltet sich ein kollektives kulturelles Gesamtsystem. Schein präzisierte das zunächst diffus erscheinende Phänomen „Organisationskultur“ unter Bezugnahme auf die Kulturanthropologen Kluckhohn & Strodtbeck (1961) nach drei Gesichtspunkten. Sie reichen von schwer erschließbaren, d.h. nur interpretativ zu erfassenden bis zu sichtbaren Merkmalen.

In jedem organisatorischen System bilden sich demnach

  • so genannte Basisannahmen, d.h. bestimmte Weltbilder und anthropologische Prämissen. Sie umfassen Annahmen über die Organisationsumwelt, über menschliche Beziehungen, menschliche Haltungen usw. Sie sind für einen Beobachtenden nur schwer erschließbar.
  • Diese anthropologischen Prämissen bilden den Hintergrund für Wertvorstellungen und Verhaltensstandards der Organisationsmitglieder. Sie beinhalten Ge- und Verbote, an denen sich jedes Organisationsmitglied in der einen oder anderen Weise orientiert. Auch diese Gruppe von Mustern manifestiert sich in einer Weise, die für einen externen Beobachtenden nur unter Mühe zu erfassen ist.
  • Verhaltensstandards und Wertorientierungen äußern sich dann in einem Symbolsystem, das in beobachtbaren Interaktionen und Verhaltensweisen zu fassen ist. Das sind bestimmte Sprachformen, Rituale bei der Begrüßung, unausgesprochene Kleidervorschriften usw., aber auch Mythen, Geschichten und Legenden, die unter den Mitarbeitenden kursieren. Erst diese Aspekte sind einer direkten Beobachtung zugänglich.

Die auf den Basisannahmen beruhenden zentralen Wertvorstellungen führen im Laufe der Zeit als so genannter „Kulturkern“ (Sackmann 1983) zu konzeptionellen Festschreibungen, manifesten Standardisierungen usw. Das Symbolsystem dient als unterstützendes Netzwerk (ebd. 1983, S.395). Dieses stabilisiert über Sprachstile, Rituale, Mythen, usw. den Kulturkern. Die besondere Art einer Kultur bestimmt sich nach ihren Gründern, nach ihrer Gründungsgeschichte, nach den Organisationszielen, nach dem Umfeld, nach der Branche usw. (vgl. Peters & Waterman 1982). Im Gegensatz zu ursprünglichen Auffassungen, die von der Homogenität einer Kultur in Organisationen ausgingen, wurde später postuliert, dass sich vielfach zwei oder mehr kulturelle Muster als Subkulturen eruieren lassen.

Im Zuge der Kulturentwicklung eines Systems formieren sich natürlich auch Muster für den Umgang mit Fehlern. Als „Fehlerkultur“ schält sich dann auf Dauer auch eine jeweilige Art heraus, wie in einer Organisation über Fehler gefühlt, gedacht, und wie mit Fehlern umgangen wird. Hervorragende Bedeutung für die Entwicklung einer Kultur und damit auch für die Fehlerkultur hat die jeweilige Führungskraft. Ihre Haltung zu Fehlern spielt eine große Rolle. Hier lässt sich beispielsweise eine Checkliste für Vorgesetzte als Kulturprotagonistinnen und -protagonisten mit folgenden Fragen nutzen (VNR-Letter 11.1.2007):

  • Machen Sie Ihren Mitarbeitenden klar, dass Fehler besser sind, als Stillstand?
  • Zentrieren Sie sich bei Fehlern mehr auf Lektionen, die zu lernen sind, als auf den Schaden?
  • Geht es bei Fehleranalysen um Vermeidung oder um Schuldzuweisungen?
  • Belohnen Sie Offenheit von Mitarbeitenden auch dann, wenn der Inhalt für Sie unangenehm ist?
  • Gestehen Sie offen eigene Fehler ein?
  • Gestehen Sie gegenüber Ihren Vorgesetzten Fehler ein, die Ihr Team gemacht hat?

In den Wirtschaftswissenschaften gewann die Fehlerdebatte auch durch Besonderheiten der japanischen Kultur an Relevanz. Hier ist es beispielsweise in Produktionsbetrieben üblich, regelmäßige Treffen zur Qualitätsprüfung bzw. -sicherung einzuberufen – das sogenannte Kaizen -, um immer wieder an Verbesserungen der Produkte zu arbeiten. Im weiteren Verlauf wurden solche Maßnahmen auch in vielen Firmen in Westeuropa zu einem wesentlichen Wettbewerbsvorteil. Dadurch rückten Maßnahmen der Fehlerprophylaxe mit solchen zur Qualitätssicherung zusammen. Im Zuge dieser Entwicklung betonte man in der Fehlerdebatte immer eine zweifache Perspektive:

  1. 1. Fehler einzelner Personen und
  2. 2. Systemfehler (Fehler im Gesamtsystem und in Subkulturen).

Als Systemfehler lassen sich allerdings, wie an einem Vergleich von Flugkapitänen und medizinischem Personal deutlich wird, auch branchenspezifische Haltungen nennen: In einer Befragung von 30.000 Pilotinnen und Piloten sowie 1.033 Ärztinnen und Ärzten und Krankenschwestern, ob sie bei Übermüdung in Notfallsituationen noch effektiv handeln könnten, stimmten nur 26% der Pilotinnen und Piloten mit „ja“, dagegen aber 70% der Chefärztinnen und -ärzte mit „ja“ (Glazinsky & Wiedensohler 2004). Ausgehend von diesem Ergebnis könnte man also sagen, dass man sich im medizinischen Bereich für wesentlich resistenter gegen Fehler hält als im Flugverkehr. Und wie das Beispiel der Koreanischen Fluggesellschaft zeigt, wirken sich auch Phänomene der Nationalkultur auf den Umgang mit Fehlern aus, in Korea eben die starke Autoritätshörigkeit.

3. Fehlerkultur im Kinderschutz

Wenn wir nach der Fehlerkultur im Kinderschutz fragen, müssen wir auch eine Differenzierung nach mehreren Fehlerkategorien vornehmen:

  • Fehler einzelner Personen,
  • Fehler in der Subkultur des ASD oder in medizinischen Praxen,
  • Fehler im Jugendamt,
  • Fehler in der Politik und in den Medien.

Vorab sei gesagt, dass es sich beim Kinderschutz noch mehr als im Gesundheitswesen um ein Feld handelt, das schwer zu operationalisieren ist. Dementsprechend ist auch schwer zu sagen, was im Einzelnen als Fehler zu gelten hat. Und die Aufgaben der Mitarbeitenden des ASD müssen ohnedies immer mehrdeutig bleiben zwischen Förderung und Kontrolle. Das heißt, hier bleibt immer eine hohe Unsicherheit der Entscheidungen bestehen. Die Kinder müssen von den Fachkräften vor Gefahren geschützt werden, gleichzeitig haben sich aber auch die Fachkräfte vor unangemessenen Forderungen gegenüber der Familie, gegenüber der Organisation und gegenüber der Gesellschaft zu schützen.

3.1. Fehler einzelner Personen

Als Fehler einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind nach Fegert et al. (2010) zu betrachten:

  • die unvollständige Nutzung von Informationsquellen seitens der Mitarbeitenden des ASD
  • die Untätigkeit wegen Hilfeverweigerung der Eltern
  • die Verkennung der Gefahrenlage
  • mangelnde Diagnostik des Elternhauses
  • die Nichtbeteiligung der Kinder
  • der unvollständige Eindruck von Eltern und Kindern
  • die Aussagen der Eltern werden nicht hinterfragt
  • mangelnde Berücksichtigung der männlichen Partner der Mütter
  • Mangel an Dokumentation
  • Mangel an Fachlichkeit bei allen beteiligten Fachvertreterinnen und -vertretern, wie Fegert et al. zudem immer wieder betonen
  • mangelnde Kooperation zwischen den verschiedenen Vertreterinnen und Vertretern von Disziplinen (der Ärztinnen und Ärzte, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Polizei usw.)

Biesel (2013) nennt noch weitere Fehler einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter:

  • Mängel in der Interaktion mit den Eltern
  • Mangelnde Anerkennung und Beteiligung von Eltern und Kindern
  • Normative Fehler im Sinne von Voreingenommenheit
  • Entscheidungs- und Deutungsfehler

Unerfahrenheit, aber auch Uninformiertheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können dazu führen, dass sie die Gefährdungen nicht erfassen, denen Kinder seitens süchtiger oder psychotischer Eltern ausgesetzt sind, und dann allzu lange warten, um entsprechende Hilfsmaßnahmen einzuleiten.
Auch von Ärztinnen und Ärzten, die Merkmale von Misshandlungen an Kindern bemerken, wird immer wieder berichtet, dass sie sich auf ihre Schweigepflicht berufen und deshalb untätig bleiben. Vielfach befürchten sie, Patientinnen und Patienten zu verlieren (Fegert et al. 2010).

3.2. Fehler in der Subkultur des ASD

Wenn wir den ASD als Subkultur eines jeweiligen Jugendamtes begreifen, dann müssen wir auch nach Fehlern auf Seiten der Leitung eines jeweiligen ASD fragen, denn die Leitung ist immer für die jeweilige Kultur prägend.
Wir erleben, dass

  • es die Leitung versäumt, fachliche Maßstäbe zu setzen,
  • sie von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern keine Fortbildung und
  • keine Qualität sichernden Meetings fordert,
  • es die Leitung versäumt, Falldiskussionen und Supervision zu initiieren.
  • Die Haltung der Leitung gegenüber Fehlern ist im ungünstigsten Fall entweder gleichgültig oder stark sanktionierend.
  • Außerdem versäumen es Leitungen mitunter, die Kooperation mit den freien Trägern, den medizinischen Diensten oder anderen Instanzen zu fördern und zu überwachen.
  • Und schließlich vermeiden Leitungen die Auseinandersetzung mit der Jugendamtsleitung, um mehr Ressourcen für den ASD einzufordern.

3.3. Fehler in den Jugendamtskulturen

Wie Kay Biesel (2011) im Zuge des Vergleichs der Jugendämter Dormagen und Schwerin zeigt, erweisen sich neben den Kulturen der jeweiligen Jugendämter auch ihre Strukturen als fehleranfällig.

  • Da ist zunächst die heute übliche Ökonomisierung des Sozialen, die unter dem Label von New Public Management (Budäus 1998) vielfach zu systemfremden und dysfunktionalen Einsparungen führt.
  • So gibt es nicht wenige Jugendämter, die mit dem Hinweis, „die Supervision ist doch sowieso freiwillig und wird nicht immer von allen besucht“, die Gelder für die Supervision streichen.
  • Unter dem Gesichtspunkt der Kostenersparnis werden Mitarbeiterstellen oft nicht mehr besetzt oder nur mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Anerkennungsjahr. Die Einarbeitung neuer Mitarbeitender wird durch den Personalmangel ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen.
  • Aufgrund von personellen Engpässen sind die Mitarbeitenden oft überlastet, werden krank oder verlieren mitunter jedes Engagement für ihre Arbeit.
  • In der Leitung von Jugendämtern finden wir vielfach Juristinnen und Juristen, was die Verständigung der sozialpädagogischen Führungskräfte des ASD mit der Spitze des Amtes erschweren kann.
  • Solche Konstellationen führen nicht selten zu ausgeprägt „bürokratischen Organisationskulturen“, in denen die Einhaltung der Formalien mehr Ressourcen bindet als die Interaktion mit den Klientinnen und Klienten (Brody 1993).

Die genannten Strukturprobleme verhindern häufig, dass in Jugendämtern konstruktive Kulturmuster gedeihen, so dass allzu viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ungern zur Arbeit gehen. Führungskräften sollte es jedoch daran gelegen sein, dass die Mitarbeitenden eine hohe Identifikation mit ihrer Tätigkeit entwickeln können.

3.4. Fehler in der Politik und in den Medien

Die Politik reagiert häufig vor allem auf eklatante Fehler wie etwa den Tod von Kindern. Wir finden hier immer noch zu wenig proaktive Entwicklungen. Im Übrigen erweist sich auch der Föderalstaat als problematisch, weil dadurch jede Region und sogar jede Stadt ihre eigenen Normen und Standards für einen guten Kinderschutz entwickeln können. Auf diese Weise sind schon die Strukturen der Jugendämter äußerst unterschiedlich (Flösser & Otto 1992).

Internationale Vergleiche zeigen, dass etwa in Großbritannien schon eine weitaus effizientere Fehlerkultur etabliert wurde.

Die Medien erweisen sich vielfach als wenig hilfreich für den Kinderschutz, weil durch die Skandalisierung von offensichtlichen Missständen meistens nur nach einzelnen Schuldigen gesucht wird. Das hat zur Folge, dass die einzelnen Mitarbeitenden des Jugendamtes an den Pranger gestellt werden, das System aber letztlich bleibt wie es ist oder wie es immer schon war.

4. Was wäre eine optimale Fehlerkultur? Welche Empfehlungen sind hier wichtig?

Aus dem Bisherigen sollte deutlich werden, dass sich Veränderungen nicht auf die Praktiken einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschränken können. Hier muss vielmehr das gesamte System einbezogen werden.

4.1. Empfehlungen auf der Ebene der Mitarbeitenden

  • Im Anschluss an Fegert et al. (2010, S. 341) sollten die „Kompetenzen der Mitarbeiter im Erkennen von Risiken und in der Integration unterschiedlicher Perspektiven“ gesteigert werden. Dabei kann es nicht einfach um die Abarbeitung von Checklisten gehen, sondern die Mitarbeitenden benötigen ein umfassendes Verständnis von Gefährdungspotentialen.
  • Die Auseinandersetzung über das jeweilige Gefährdungspotential eines Falles sollte im Fachteam des jeweiligen ASD erfolgen.
  • Wünschenswert ist auch, dass die Mitarbeitenden zu einer guten Dokumentation befähigt sind, bei der unterschiedliche Interventionen mit ihren jeweiligen Risiken abgewogen werden.
  • Die Mitarbeitenden sollten über solide Kenntnisse verfügen im Hinblick auf Suchterkrankungen, psychiatrische Erkrankungen sowie die Delinquenz der Eltern und ihre Auswirkungen auf ihre Erziehungsfähigkeit. Hier ist ein nachhaltiger interdisziplinärer Austausch erforderlich. Die Mitarbeitenden sollten deshalb gesundheitswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Fortbildungen erhalten.
  • Wesentlich wäre zudem ein verbessertes Berichtswesen, das nicht bürokratisch ist, den Kolleginnen und Kollegen aber eine rasche Übersicht über den jeweiligen Fall erlaubt.
  • Wie Fegert et al. betonen, sollten auch Ärztinnen und Ärzte über ein entsprechendes rechtliches Wissen verfügen, wie beispielsweise, dass sie bei Misshandlungsverdacht ein Kind auch ohne Wissen der Eltern untersuchen dürfen.

4.2. Empfehlungen auf der Ebene des ASD

  • Eine gute Fehlerkultur des ASD setzt ein gutes Management voraus. Dazu gehören die Qualitätssicherung und die Leistungsbewertung der Mitarbeitenden.
  • Das wiederum setzt eine entschiedene Führung voraus. Das bedeutet, dass die Leitung für eine gute Fortbildung sorgt, so dass die Mitarbeitenden möglichst schnell einen potentiellen Hilfebedarf von Familien erkennen können.
  • Die Fortbildung im Sinne von Fallbesprechungen sollte die Mitarbeitenden auch für Gespräche mit den Eltern qualifizieren, so dass sie von diesen nicht primär als Kontrolleure begriffen werden, sondern insbesondere mit ihren hilfreichen Möglichkeiten in Erscheinung treten können. Auch solche Fortbildungen sollten verpflichtend sein.
  • Die Kommunikation zwischen allen Professionellen, die mit einer Familie zu tun haben, ist von zentraler Bedeutung, deshalb muss die Führungskraft des ASD dafür sorgen, dass eine gute Fallbesprechung, möglichst mit externer Unterstützung, im Monatsplan fest verankert ist.
  • Diese Fallreflexion als Maßnahme der Qualitätssicherung sollte verbindlicher Bestandteil des Arbeitsvertrages eines jeden Mitarbeitenden werden. Die Fallreflexion muss aber konzeptionell so gestaltet sein, dass sich kein Mitarbeitender unangemessen stark mit seiner Biographie oder seinem aktuellen Privatleben einbringen muss.
  • Auch die konzeptionelle Orientierung der Fallreflexion bzw. der Supervision ist Aufgabe der Leitung. Dies müssen gut strukturierte Treffen sein, bei denen im Idealfall eine Fallbesprechung sogar schon strukturell vorbereitet ist.
  • Diese Treffen sollten bei Bedarf auch interdisziplinär stattfinden mit Ärztinnen und Ärzten, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern.
  • Bei all diesen Maßnahmen geht es auch um die Haltung gegenüber Fehlern. Die Führungskraft sollte sie zwar klar benennen, den jeweiligen Mitarbeitenden aber nicht verurteilen, sondern einen offenen und fachlich adäquaten Umgang mit Fehlern fördern.
  • Schließlich sollten Leiterinnen und Leiter des ASD sequenzweise Coachings zur Förderung eines effektiven und humanen Führungsstils einfordern.

4.3. Empfehlungen auf der Ebene des Jugendamtes

  • Der ASD sollte im Jugendamt gut verankert sein, d.h. die Leitung sollte zu regelmäßigen Treffen mit ihren Vorgesetzten eingeladen werden oder sich selbst einladen. Die Jugendamtsleitung sollte sich aber stets für die Arbeit des ASD interessieren.
  • Die Amtsleitung und die Leitung des ASD sollten auch für eine gute Kooperation zwischen Mitarbeitenden des Amtes und solchen der freien Träger und anderer Instanzen sorgen.
  • Die Führungskraft sollte sich entschieden bei der Amtsleitung für eine ausreichende Versorgung mit personellen und sonstigen Ressourcen einsetzen. Nur dann wird sie erreichen, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam die Verantwortung für ihre Aufgaben im ASD übernehmen und nicht nur als Krisenmanager und Lückenfüller fungieren müssen.
  • Die Leitung des Jugendamtes sollte sich auch für eine konstruktive Personalentwicklung des ASD einsetzen.
  • Zudem sollte sie Bezüge zu Hochschulen und Fachhochschulen fördern, damit die Praxis des Jugendamtes eine zusätzliche fachliche Legitimation erfährt. Denn wie Fegert et al. anmerken, ist der Kinderschutz in Deutschland bislang noch kaum Gegenstand der Forschung.

4.4. Empfehlungen auf nationaler Ebene

  • Nach dem Vorbild englischsprachiger Länder sollte man auch in Deutschland ein Berichtswesen einführen, bei dem „Vorfälle“ oder „kritische Ereignisse“ im Kinderschutz systematisch notiert werden.
  • „Die Politik müsste mit gutem Beispiel vorangehen und nicht nur in „Sonntagsreden“ die Vernetzung von allen beteiligten Instanzen fordern“ (Fegert, S. 355).
  • Kinderschutz ist eine Ressort übergreifende Aufgabe. Immer wieder gibt es Expertengruppen unterschiedlicher Bundesministerien, etwa zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls, oder zur Veränderung des Vormundschaftswesens. Auch die Polizei hat in vielen Bundesländern Anstrengungen unternommen, um Interventionen bei häuslicher Gewalt effizienter zu gestalten usw.
  • Und doch widerfährt Kindern immer wieder Gewalt. Denn wahrscheinlich sind alle diese Bemühungen nicht genügend koordiniert und durchschlagend genug, um einen guten Kinderschutz zu garantieren.

Literatur:

Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Berger, P., Luckmann, T. (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer.

Biesel, K. (2011): Wenn Jugendämter scheitern. Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz. Bielefeld: transkript.

Biesel, K. (2013): Fehlerkultur im Kinderschutz – eine Herausforderung für Jugendämter? 6. Qualitätswerkstatt, Jugendamt Dresden, Montag 28.01.2013 (Internet).

Brandl, P.K. (2012): Crash Kommunikation. Warum Piloten versagen und Manager Fehler machen. Offenbach: Gobal.

Brody, R. (1993): Effectively Managing Human Service Organizations. Newbury Park: Sage Publications.

Budäus, D. (1998): Von der bürokratischen Steuerung zum New Public Management. Eine Einführung. In: Budäus, D., Conrad, P., Schreyögg, G. (Hg.): New Public Management. Managementforschung 8. Berlin: De Gruyter.

Fegert, J.M., Ziegenhain, U., Fegerau, H. (2010): Problematische Kinderschutzverläufe. Mediale Skandalisierung, fachliche Fehleranalyse und Strategien der Verbesserung des Kinderschutzes. Weinhein: Juventa Beltz.

Flösser, G., Otto, H.-U. (1992) (Hg.): Sozialmanagement oder Management des Sozialen? Kritische Texte aktuell. Bielefeld: KT-Verlag.

Freud, S. (2009; 1856-1939): Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Frankfurt/M.: Fischer.

Glazinski, R., Wiedensohler, R. (2004): Patientensicherheit und Fehlerkultur im Gesundheitswesen. Fehlermanagement als interdisziplinäre Aufgabe in der Patientenversorgung. Eschborn: Verlag Dr. Glazinski.

Helmreich, R.L. (1984): Cockpit management attitudes. Human factors 26: 583-589.

Kluckhohn, F.R., Strodtbeck, F.L. (1961): Variations in value orientations. Evanston: University Press.

Oser, F., Spychinger, M. (2005): Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim, Basel: Beltz Pädagogik.

Peters, T. L., Waterman, R.H. (1983): Auf der Suche nach Spitzenleistungen. Landsberg/Lech: Moderne Industrie.

Sackmann, S. (1983): Organisationskultur: Die unsichtbare Einflussgröße. In: Gruppendynamik 14 (4), 1983, 393-406.

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