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Impulsvortrag von Prof. Dr. Heiner Keupp, Ludwig-Maximilians-Universität München (em.)

"Frühe Hilfen aus zivilgesellschaftlicher Perspektive"

In den Frühen Hilfen lassen sich drei Felder ausmachen, in denen sich Ehrenamtliche engagieren. Sie sind gekennzeichnet durch eine spezifische Architektur zivilgesellschaftlichen Engagements und durch verschiedenartige Formen professioneller Begleitung bzw. Koordination. Prof. Dr. Heiner Keupp griff in seinem Vortrag auf das Impulspapier „Frühe Hilfen aus zivilgesellschaftlicher Perspektive“ (2015) zurück, das er gemeinsam mit Prof. Dr. Luise Behringer im Auftrag des NZFH verfasst hat.

Ausgangspunkt bei der Erstellung des Impulspapiers war eine thematisch übergreifende zivilgesellschaftliche Perspektive. Die Enquetekommission des Deutschen Bundestags zur „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ (2002) hat freiwilligem Engagement eine zentrale Rolle für den Zusammenhalt der Gesellschaft zugewiesen: Freiwilliges Engagement „eröffnet Bürgerinnen und Bürgern Möglichkeiten für selbst organisierte Mitgestaltung und Beteiligung“. Es schafft „eine Atmosphäre der Solidarität, der Zugehörigkeit und des gegenseitigen Vertrauens“. 

Entgegen verbreiteter Einschätzungen geht freiwilliges Engagement nicht zurück. Vielmehr vollzieht sich ein Wandel: Weg vom klassischen Ehrenamt, das seinen „Nachschub“ aus traditionsreichen sozialen und weltanschaulichen Milieus bezogen hat, hin zu einem Engagement, das sich aus dem Wunsch nach selbstbestimmter Lebensführung speist. 

Freiwilliges Engagement kann durch unterschiedliche Faktoren motiviert sein: Spaß an der Tätigkeit und der Wunsch nach Selbstverwirklichung sind zentrale Motive. Auch traditionelle Beweggründe spielen eine Rolle – etwa der Wunsch, anderen zu helfen oder etwas für das Gemeinwohl tun zu wollen.

Weil Menschen sich mit ihrem Engagement nicht mehr selbstverständlich in den vorhandenen Strukturen von Politik, Kirchen und Organisationen verorten wollen, bedarf es neuer Handlungsangebote. Trotz der Bemühungen der Freiwilligenagenturen, gibt es ein brachliegendes Potential für freiwilliges Engagement, das für die Frühen Hilfen genutzt werden kann. Denn gerade für die Zielgruppe Kinder und Jugendliche existiert eine hohe Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement.

Zivilgesellschaftliches Engagement kann am ehesten im kommunalen Raum praktiziert werden. Deshalb ist es wichtig, entsprechende Förderstrukturen in den Gemeinden zu entwickeln.

Bürgerschaftliches Engagement wird je nach Blickwinkel als Chance oder als Risiko betrachtet. Befürworter argumentieren, dass Innovationen im sozialen Bereich meist von engagierten Bürgerinnen und Bürgern ausgingen, die auf Defizite im professionellen System reagierten. Zudem gelinge es Freiwilligen eher, lebensweltlich Zugänge zur Zielgruppe zu schaffen. Kritiker hingegen sehen Bürgerengagement als Kompensation für Einsparungen und Privatisierung sowie als vermeintlich kostengünstige Lösung im psychosozialen Bereich. Auf diese Weise würden Freiwillige für professionelle Aufgaben eingesetzt. Sie seien damit vielfach überfordert und würden sogar eher Schaden anrichten als den Familien helfen.

Wie unterscheidet sich freiwillige von professioneller Arbeit? Freiwillige sind Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrem Engagement Hilfe leisten und dabei ihre Kompetenzen und Lebenserfahrungen einsetzen sowie neue erwerben wollen. Sie suchen im Engagement Sinn und Freude. Ihre Tätigkeit ist unentgeltlich. Professionelle hingegen haben spezifische fachliche Qualifizierungen erworben, die ihre Tätigkeit in spezifischen Feldern der Daseinsvorsorge, Gesundheitsförderung, Beratung, Therapie oder Rehabilitation rechtfertigt. Für diese Tätigkeiten gibt es eine Bezahlung, die über Tarifverträge gesichert ist. Bei gesetzlich geregelten und teilweise hoheitlichen Aufgaben dürfen nur Professionelle eingesetzt werden. Zwischenfazit: Freiwilligentätigkeit kann professionelle Aufgaben nicht ersetzen, aber zusätzliche Impulse und Innovation ermöglichen.

Kernthesen für die Förderung bürgerschaftlichen Engagements

  • Bürgerschaftliches Engagement fördern zu wollen, bedeutet eine erhöhte Konfliktbereitschaft und die Akzeptanz von „Eigensinn“. Konflikte müssen ausgetragen werden. Für beide Seiten sind verbindliche Vereinbarungen zu treffen.
     
  • Ohne tiefgreifende Veränderungen in der Mentalität von Politik, Verwaltung und Verbänden wird sich das Potential von bürgerschaftlichem Engagement nicht heben lassen.
     
  • Bürgerschaftliches Engagement ist kein „Notstromaggregat“ zur Kompensation professioneller Hilfen.
     
  • Projekte bürgerschaftlichen Engagements wollen und dürfen von Politik, Verwaltung und Verbänden nicht instrumentalisiert werden.
     
  • Hauptamtliche müssen freiwillig Engagierte als gleichberechtigte Partner akzeptieren. Dies erfordert ein Handeln aus einer Empowerment-Perspektive. 


Familien und Modernisierung – „Experimentierbaustellen“ für zukunftsfähige Lösungen: „doing family“

Traditionelle Familienformen verlieren seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung. Hier spielen gesellschaftliche Strukturveränderungen wie Individualisierungsprozesse, die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen und Mobilität eine Rolle. In „sozialen Experimentierbaustellen“ haben vor allem Frauen neue zivilgesellschaftliche Lösungen für das moderne Familienleben erprobt. Entstanden sind innovative Formen der Familienselbsthilfe wie Mütter- und Familienzentren, Nachbarschaftshilfen und Mehrgenerationenhäuser. Dabei hat Familienselbsthilfe für die öffentliche Förderung ihrer Infrastruktur gekämpft und diese auch erhalten. Zivilgesellschaftliche Prinzipien wie Selbstorganisation und Partizipation sind in den Projekten der Familienselbsthilfe zentral.

Freiwilliges Engagement in den Frühen Hilfen: Drei unterschiedliche Typen

Welches Potential bringen Freiwillige in die Frühen Hilfen ein? Was können, sollen und dürfen sie nicht leisten? Wie müssen die Schnittstellen zwischen professionellem und freiwilligem Engagement beschaffen sein, damit sie für Familien eine Unterstützung und für professionelles Handeln eine Ergänzung darstellen? Diese Fragen lieferten den Hintergrund für die Erstellung des Impulspapiers. 

Dabei zeigte sich, dass Freiwilliges Engagement in den Frühen Hilfen unter einer zivilgesellschaftlichen Perspektive mehr als nur den Aufbau von Ehrenamtsstrukturen umfasst. Es kristallisierten sich drei Felder heraus, in denen jeweils eine spezifische Architektur zivilgesellschaftlichen Engagements und professioneller Begleitung, Koordination und ggf. Initiierung erkennbar ist:

  1. Präventionsprojekte werden von Hauptamtlichen geplant und durchgeführt und sind meist als Patenschafts- oder Tandemmodelle angelegt. Die Gewinnung und Schulung ehrenamtlicher Helfer und Helferinnen erfolgt ebenso durch Professionelle wie der Einsatz und die Begleitung der Ehrenamtlichen. Die Unterstützung durch Freiwillige zielt auf eine niederschwellige alltagspraktische Begleitung und Entlastung von Familien sowie eine Erweiterung ihres sozialen Beziehungsnetzes (z.B. Familienpaten).
     
  2. Empowermentprojekte und -programme werden durch Professionelle angeregt, begleitet und partizipativ ausgerichtet. Sie sind in der Lebenswelt der Familien verankert und dienen der Schaffung von sozialen Netzwerken. Zentrales Ziel ist es, Eltern und Familien zur Selbstorganisation und zu Selbsthilfeaktivitäten anzuregen sowie ihre Elternkompetenz zu stärken (z.B. Elterntalk oder Familienrat).
     
  3. Familienselbsthilfen, d.h. von Eltern initiierte, nichttraditionelle Begegnungs- und Arbeitsformen, die entweder als Ergänzung zu gewachsenen sozialen Beziehungen oder als Reaktion auf defizitäre Versorgungsstrukturen entstanden sind. Es handelt sich dabei um komplexe sozialraumbezogene Angebote, in denen freiwilliges und professionelles Engagement abgestimmt und gleichberechtigt erbracht wird. Sie verfolgen das Ziel, selbstaktive Handlungsfelder zu schaffen, um Gemeinschaft herzustellen, die eigene Lebenssituation zu gestalten und strukturelle Veränderungen zu Gunsten von Familien herbeizuführen (z.B. Elterninitiativen, Selbsthilfegruppen, Familienzentren, Mehrgenerationenhäuser).

Empfehlungen für Freiwilligenmanagement und Ehrenamtskoordinatorinnen und -koordinatoren 

Als ideale Schnittstelle von freiwilligem und professionellem Engagement dienen vor allem Orte, an denen sich Familien treffen und austauschen und sich damit auch selbst organisieren können. Entsprechend sinnvoll sind Einrichtungen, die sozialraumbezogen ausgerichtet sind, ein komplexes Angebot machen können und eine Mitwirkung und Vernetzung der Eltern ermöglichen. Durch die Ansiedlung von Präventionsprojekten in Familienzentren werden verstärkt auch solche Familien erreicht, die eher als Adressaten intervenierender Sozialarbeit gelten. Dabei entfalten Programme die höchste Wirkung, wenn gleichzeitig eine selbsthilfeorientierte Vernetzung möglich ist.

Daraus ergeben sich zentrale Empfehlungen:

  • Bürgerschaftliches Engagement ist förderungswürdig, weil es im psychosozialen Feld ein wichtiger Impulsgeber für Innovation ist.
     
  • Bürgerschaftliches Engagement ermöglicht eine Verortung von neuen Hilfssystemen in sozialräumlich bestehende Netzwerke.
     
  • Die Begleitung und Ermutigung (Empowerment) des Freiwilligenengagements und der Selbsthilfe sind professionelle Aufgaben.
     
  • Freiwilligenmanagement ist ein berufliches Handlungsfeld, das einer systematischen Fachausbildung bedarf.
     
  • Freiwilligenmanagement hat darauf zu achten und sicherzustellen, dass Freiwillige sich nicht überfordern und keine professionellen Aufgaben übernehmen.
     
  • Freiwilligenmanagement sorgt für gute Rahmenbedingungen sowie für die Entwicklung und Einhaltung von Qualitätsstandards.