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Die Praxis hat das Wort – Abschließendes Podiumsgespräch

Wie war die Situation vor der Bundesinitiative Frühe Hilfen und was hat sich inzwischen verändert? Im abschließenden Podiumsgespräch berichteten Fachkräfte aus den Frühen Hilfen über ihre Erfahrungen.

An dem Podiumsgespräch nahmen teil:

Nicole Hellwig, Projektleiterin Babylotsen, Hamburg
Angelika Raupach, Netzwerkkoordinatorin (inkl. Ehrenamt), Landkreis Nordhausen
Dr. med. Till Reckert, Kinder- und Jugendarzt, Moderator eines Qualitätszirkels Frühe Hilfen, Reutlingen
Heike Sielaff, Familienhebamme, Bremen (Pro Kind Bremen)
Pilar Wulff, Netzwerkkoordinatorin im Jugendamt der Stadt Dortmund


Die Inhalte des Podiumsgesprächs haben wir für Sie zusammengefasst. 

Von Eigeninitiative zu systematischer Vernetzung

Durch die Bundesinitiative Frühe Hilfen werden Aktivitäten zur Vernetzung Früher Hilfen systematischer, transparenter und qualitativ hochwertiger umgesetzt, erklärte Nicole Hellwig, Projektleiterin Babylotsen Hamburg. Vorher beruhte das Engagement für Frühe Hilfen oftmals auf Eigeninitiative und Einzelkämpfertum. Nun mündet Einzelkämpfertum in Teamarbeit, ergänzte Angelika Raupach, Netzwerkkoordinatorin im Landkreis Nordhausen. Die Bundesinitiative hat durch die gesetzliche Verankerung und eine fundierte Finanzierung die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen, um die Netzwerke auszubauen sowie die Qualität und die Zusammenarbeit innerhalb bestehender Netzwerke zu verbessern. 

Auch Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte stießen häufig als Einzelkämpfer an ihre Grenzen. Für die Weiterleitung in Netzwerke gab es kein geregeltes Berichtswesen, die Ärzteschaft erhielt keine Rückmeldung auf ihren Einsatz, wie Dr. med. Till Reckert berichtete. Doch Ärztinnen und Ärzte handelten schon immer nahezu selbstverständlich im Sinne der Frühen Hilfen, da es zu ihren Aufgaben gehört, Eltern in ihrer Erziehungskompetenz und Gesundheitsfürsorge für ihre Kinder zu stärken. In den Praxen erfahren Ärztinnen und Ärzte tagtäglich, dass dort, wo gute Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gelingen und eine gute Erziehung aufgebaut werden kann, später Gesundheit entsteht. Nicht zuletzt durch interdisziplinäre Qualitätszirkel wie in Baden-Württemberg, die einen persönlichen Austausch der Professionen ermöglichen, ändert sich die Situation.  

Gemeinsame Sprache und gegenseitige Wertschätzung

Für eine Zusammenarbeit der unterschiedlichen Systeme ist es notwendig, eine gemeinsame Sprache zu finden. Pilar Wulff, Netzwerkkoordinatorin im Jugendamt der Stadt Dortmund, stellte anschaulich dar, wie schwierig am Anfang die Verständigung zwischen Jugendamt und Hebammen war. Die Einladung der Hebammen ins Rathaus als wertschätzende Geste setzte den Startpunkt für eine gelingende Zusammenarbeit. Um die Erreichbarkeit der Hebammen zu verbessern wurde eine Hotline eingerichtet, aus dem sich entwickelnden Hebammenpool wurden acht Familienhebammen rekrutiert. Heute steht einer gemeinsamen Sprache nichts mehr im Weg. In Dortmund hat sich gezeigt, dass dies ein Prozess ist, der Zeit braucht, der aber gelingt, so Pilar Wulff.  

Gegenseitige Wertschätzung aller Beteiligten in den Netzwerken Frühe Hilfen hoben die Podiumsgäste als das A und O gelingender Zusammenarbeit hervor. Wertschätzung beispielweise von Ehrenamtlichen, die für gleichwertiges, niedrigschwelliges und an vielen Stellen ausreichendes Engagement gewürdigt werden sollten. Wertschätzung aber auch zwischen dem Gesundheitswesen und der Jugendhilfe. Durch das Selbstverständnis als Verantwortungsgemeinschaft können mögliche Hürden gemeinsam überwunden werden. Zu diesen können auch Konkurrenzen im Hinblick auf finanzielle Ressourcen oder Zeitbudgets gehören. Netzwerkarbeit kann dadurch zur Entlastung werden, dass sich die unterschiedlichen Systeme verstehen lernen. Es sollte immer mehr in das Bewusstsein und die Haltung der Gesellschaft übergehen, dass es zwischen den Systemen keine Grenzen, sondern fließende Übergänge gibt, erklärte Dr. Till Reckert.  

Vertrauen und Freiwilligkeit

Der natürliche Zugang zu den werdenden Müttern, Akzeptanz und Vertrauen sind die Basis der Arbeit von Hebammen und Familienhebammen. Freiwilligkeit steht deshalb im Zentrum der Zusammenarbeit mit den Familien, wie Heike Sielaff, Familienhebamme in Bremen, hervorhob. Auch ist eine klare Trennung von Frühen Hilfen und Kinderschutz notwendig.  Das Potential des originären Zugangs von Hebammen während der Schwangerschaft und im Wochenbett sollte für die Frühen Hilfen genutzt werden. Wünschenswert wäre, die Weiterbildung zur Familienhebamme in die grundständige Ausbildung der Hebammen zu integrieren, ergänzte Angelika Raupach. Denn so könnten die Hilfen jede Frau erreichen, ohne Gefahr zu laufen, als Stigma erlebt zu werden.  

Wünsche für die Zukunft

„Ich wünsche mir, dass aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse, die in den Foren kommuniziert wurden, schlichtweg gehandelt wird“, so brachte Nicole Hellwig den Wunsch aller Beteiligten nach Weiterführung und Ausweitung des Erreichten auf den Punkt. Zentral – darin waren sich die Podiumsgäste einig – ist dabei die finanzielle Absicherung durch eine dynamische Förderung nach dem Ende der Bundesinitiative. Denn nur sie kann gewährleisten, dass die entstandene Verantwortungsgemeinschaft vertieft und erweitert wird, und dass alle Beteiligten noch ein Stück näher zusammenrücken und sich besser verstehen lernen. Auch sollten freiberufliche Hebammen nicht selbst um ihre Existenz kämpfen müssen, während sie Menschen in prekären Lebensverhältnissen helfen. Für die ferne Zukunft wünschte sich Pilar Wulff, dass die Annahme von Frühen Hilfen so selbstverständlich wird wie das Recht auf einen Kita-Platz