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Corona-Chronik. Gruppenbild ohne (arme) Kinder

Dr. Antje Richter-Kornweitz, Landesvereinigung für Gesundheit & Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V., stellte Ergebnisse einer Recherche und Analyse vor, die auch unter dem Titel "Corona-Chronik. Gruppenbild ohne (arme) Kinder – Eine Streitschrift" veröffentlicht sind.

Wie kam es zu der Recherche und Analyse?

Anlass für die Recherche sei unter anderem die Feststellung gewesen, dass Belange von Kindern, insbesondere von armen Kindern, bei den politischen Entscheidungen während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 nicht berücksichtigt worden seien. 

So zeigten Studien-Ergebnisse schnell, dass Belastungen durch den ersten Lockdown Familien sehr unterschiedlich getroffen haben: Je geringer das Einkommen, desto belastender erlebten die Familien die Auswirkungen der Pandemie auf das Familienleben. Familien mit Kindern im Kita-Alter waren zudem unzufriedener mit der Betreuungssituation als Familien mit älteren Kindern. In Interviews wurde auch deutlich, dass sich Eltern große Sorgen um die Auswirkungen des Lockdowns auf die Entwicklung der Kinder machten und sich häufig alleine gelassen fühlten.

Daraus ergaben sich Fragen, zum Beispiel: Wie stand es zu der Zeit um Teilhabechancen? Wie wirkte sich die Pandemie auf Eltern und Kinder aus? Handelte man gezielt zugunsten armer Kinder und Familien?

Was wurde ausgewertet?

Die gemeinsam mit Gerda Holz im Oktober 2020 veröffentlichte Corona-Chronik basiert auf einer Auswertung von rund 60 wissenschaftlichen Untersuchungen, Stellungnahmen, Positionspapieren, Reportagen sowie Praxis- und Presseberichten, die zwischen März und August 2020 erschienen sind.

Welches Anliegen steckte dahinter?

Die Autorinnen beabsichtigten mit der Recherche und Analyse sowie deren Veröffentlichung im Herbst 2020, Kinder und Jugendliche, insbesondere arme Kinder und Jugendliche, mehr in den Mittelpunkt des Corona-Geschehens zu rücken sowie Ankerpunkte für einen anderen Umgang und für sozial inkludierende Handlungsstrategien durch Politik und Praxis zu nennen.

Was zeigte die Auswertung hinsichtlich bundespolitischer Entscheidungen?

Politische Debatten in der Pandemie seien überwiegend aus der Perspektive von Erwachsenen geführt worden und hätten – vor allem arme – Kinder und Jugendliche nicht im Blick gehabt. Dies erläuterte Antje Richter-Kornweitz anhand drei ausgewählter Punkte:

So seien Kinder – trotz bekannter und gravierender Folgen des Lockdowns – bei Lockerungen erst spät berücksichtigt worden. Finanzielle Hilfen seien zu Beginn vorrangig an Familien gegangen, um Notlagen zu verhindern, nicht aber an Familien, die sich bereits in finanziellen Notlagen befanden. Und einen Rettungsschirm für die soziale Infrastruktur habe es erst lange nach den Hilfen für andere Bereiche wie Wirtschaft und Handel gegeben.

Die für arme Kinder und Jugendliche beschlossenen finanziellen Hilfen des Bundes bewerten die Autorinnen als nicht ausreichend und nicht zielführend.

Wie stand es um die Teilhabechancen für Kinder in Armutslagen?

Die Analyse zeigte, dass die Teilhabechancen für Kinder in Armutslagen "gegen Null gingen": Familien sollten alles ausgleichen, die Ressource Kita fiel weg, Distanz-Unterricht verstärkte das Risiko der Bildungsungleichheit, und auch die Unterstützung seitens der Kinder- und Jugendhilfe sei stark eingeschränkt gewesen. Unterstützung, die Familien während des Lockdowns gebraucht hätten, seien im Regelbedarf nicht angelegt gewesen.

So machte die Analyse deutlich, dass sich die Probleme von Kindern und Familien mit kleinem Einkommen verstärkten: steigende Haushaltskosten, wegfallende Bildungs- und Teilhabe-Leistungen (BuT-Leistungen), begrenzte Ressourcen in Wohnung und Wohnumfeld und weitere fehlende Ressourcen wie Hilfe bei Hausaufgaben oder Möglichkeiten zum Homeoffice.

Konnte die Kinder- und Jugendhilfe in der ersten Phase der Pandemie helfen?

Die Kinder- und Jugendhilfe habe während der ersten Pandemie-Phase Familien nur begrenzt unterstützen können, insbesondere da die offene Kinder- und Jugendhilfe fast komplett geschlossen war.

Auch in offiziellen Stellungnahmen und Debatten hätten die Themen Kinderschutz und Kindertagesbetreuung Priorität gehabt.

Hinzugekommen sei, dass fast zwei Drittel der Jugendämter ihr eigenes Aufgabenspektrum im Lockdown zunächst eingeschränkt hätten – möglicherweise aufgrund knapper personeller Ausstattung haben einschränken müssen. In einem Viertel der Jugendamtsbezirke seien auch die präventiv ausgerichteten Frühen Hilfen ausgesetzt worden.

Bezugnehmend auf die Einschränkungen der Jugendämter ergänzte die Referierende noch, dass im Verlauf des Jahres ein umfassendes Unterstützungsprogramm für Jugendämter mit zusätzlichen Stellen beschlossen worden sei.

Zu welchen Schlüssen kamen die Autorinnen aufgrund ihrer umfassenden Recherche und Analyse?

Die umfangreichen Recherche- und Analyseergebnisse und die sich daraus ergebenden Forderungen fasste Antje Richter-Kornweitz in Form einer zentralen Aussage zusammen: "Kinder haben Rechte".

Sie ergänzte diese Aussage mit Einzelaspekten, deren Beachtung sie für wichtig hielt:

  • Vorrang des Kindeswohls bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen
  • Recht auf Förderung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten von Kindern zur bestmöglichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit
  • Recht auf Beteiligung in allen Angelegenheiten, die Kinder betreffen

Abschließend formulierte die Expertin anstelle weiterer Forderungen – bewusst provokante – Fragen, die die dargelegte "Fehlsteuerung" während der ersten Pandemie-Phase verdeutlichten. Zum Beispiel:  

  • Warum sind Vertreterinnen und Vertreter der Perspektiven von Kindern und Jugendlichen nicht immer und überall in Krisenstäben und anderen zentralen Gremien vertreten?
  • Wer erklärt armen Kindern, Jugendlichen und Familien realistisch, wie man für 150 Euro digitalen Zugang sowie die nötige technische Ausstattung erhält?
  • Was macht es so schwer, im Alltag professionell und präventionsorientiert auf Armut zu reagieren, d. h. armutssensibel in Wissen, Haltung und Handlung?

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