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Durch Corona wird über Armut intensiv diskutiert

Gerda Holz forscht seit vielen Jahren zur Kinderarmut in Deutschland. Sie äußert sich zu Armutsfolgen und gibt Empfehlungen für Fachkräfte und Kommunen. Eine Kurzfassung des Gesprächs ist im Frühe Hilfen aktuell 1/2024 erschienen.

Wie hat sich die Situation armutsbetroffener Familien seit Beginn Ihrer Studien entwickelt?

Holz: Sehr unterschiedlich. Es zeigt sich ein Auf und Ab im Lebenslauf, wobei sich das Leben der armutsbetroffenen Kinder wesentlich heterogener gestaltetet, sie also viel früher, viel mehr und häufiger Brüchen und damit Entwicklungsrisiken ausgesetzt sind. Um es in ein Bild zu fassen: Der Aufzug gelingenden Aufwachsens ist von 1999 bis 2018 für armutsbetroffene Kinder eher nach unten und der für nicht arme Kinder eher nach oben gefahren. Die Welten der Kinder sind mehr und mehr auseinandergegangen. Ein Drittel der armen Kinder (35 Prozent) lebte mit 25 Jahren weiter in prekärer Lage, aber zwei Drittel (65 Prozent) haben den Ausstieg geschafft. Bei den nicht armen Kindern waren 2018 20 Prozent arm, erlebten also einen Abstieg, und 80 Prozent befanden sich in gesicherter Lage. Besonders bedeutsam ist, der Aufstieg ist ein unsicherer und die Gefahr, wieder in Armut abzurutschen, hoch: Wenn der Job der Eltern wieder verloren geht, wenn deren Einkommen nicht armutsfest ist, wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wegen fehlender Kinderbetreuung nur geringfügige Arbeitszeiten ermöglicht usw. Bei den nicht Armen stellt sich das viel robuster dar, hier konnte Vieles aufgrund der vorhandenen Ressourcen besser aufgefangen werden.

Was sind die langfristigen Folgen eines Aufwachsens in Armut für das spätere Leben?

Holz: die Möglichkeiten einer breit ausgerichteten Entwicklung sind aufgrund von Armut als Lebensbedingung beschränkt. Unsere Studien, wie zunehmend andere, belegen empirisch: In Armut aufwachsende Kinder können sich oft nicht in ihrer ganzen Persönlichkeit entfalten. Sie haben mehr gesundheitliche Probleme bis hin zur Chronifizierung, die psychischen Belastungen sind wesentlich größer. Das ist besonders ab dem Grundschulalter sehr deutlich. Gesundheitliche Probleme wie Allergien und Asthma, aber auch schon frühe Erfahrungen in der Jugendzeit wie versuchte Suizide, Schwangerschaftsabbrüche gemacht zu haben, all das findet sich in armutsbetroffenen Milieus sehr viel öfter als in den Vergleichsgruppen.

Heute – im Gegensatz zum Wissensstand von vor 25 Jahren, als die kindbezogene Armutsforschung selbst noch in Kinderschuhen steckte – lässt sich empirisch nachzeichnen, dass sich das Kindergesicht der Armut nicht erst – wie oft noch immer angenommen – in der Schule oder in der Kita zeigt. Die NFZH-Studie KiD 0-3 2022 belegt das ganz eindrücklich: Die Folgen von schwierigen Einkommenslagen von Familien zeigen sich schon ab Geburt und werden bisher nicht aufgefangen. Sicher ist: Wir können nicht erst in Kita oder Schule anfangen. Armut und eine "ungleiche Förderung" zugunsten sozial bzw. finanziell benachteiligter Gruppen muss von Anfang an ein Thema sein.

Welche Empfehlungen geben Sie Kommunen für die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen gegen Kinderarmut?

Holz: Der Einstieg und erste Schritt ist, dass die Kommune – damit meine ich Politik und Öffentlichkeit, alle Akteure und die Verwaltung vor Ort – ein Verantwortungsbewusstsein für die Problematik entwickelt. Es gilt festzustellen, wo es (Kinder)Armut gibt, wie viele Armutsbetroffene man hat und wie Armut sozialräumlich – d. h. stadtteil-/quartiersbezogen – unterschiedlich verteilt ist: Welche Kitas, welche Schulen brauchen besondere Aufmerksamkeit? Eine Bewusstseinsbildung und die Entwicklung eines Verantwortungsgefühls sind zentral. Dahinter steht im Grunde der gesellschaftliche Anspruch, wie er schon 2001 im 11. Kinder- und Jugendbericht skizziert ist: Kinder sind private und öffentliche Verantwortung. Diese öffentliche Verantwortung ist in den vergangenen Jahren auf allen föderalen Ebenen zwar immer wieder propagiert worden, aber ihre Umsetzung hat mit Blick auf die kommunale Ebene eigentlich erst in den letzten Jahren und insbesondere durch Corona an Fahrt aufgenommen. Was genau bedeutet eine öffentliche Verantwortung für armutsbetroffene Kinder auf der kommunalen Ebene? Modelle dafür hat es schon ab Mitte der 2000er Jahren gegeben, z. B. Monheim am Rhein oder Dormagen. Einige Länder haben Modellprogramme – z. B. NRW, Thüringen, Baden-Württemberg – gestartet, sodass wir heute durchaus auf Erfahrungen und Wissen zurückgreifen können. Wir müssen längst nicht mehr bei null anfangen. Generell lässt sich sagen, der erste Schritt kommunalen Handelns ist es, über die Problematik zu sprechen und sie als ein gesellschaftliches Anliegen zu betrachten. Dazu muss man genau hinschauen, wie es vor Ort aussieht, wer betroffen ist, wie und wo sich Probleme ballen und wo weiße Flecke genauso wie Hürden im System gegeben sind.

Der zweite Schritt für Kommunen ist, eine für alles ausreichende Menge an kindbezogener Infrastruktur, etwa an Kitaplätzen, zu haben. Es muss wahrgenommen werden, dass diese Infrastruktur vor Ort deutschlandweit nicht bedarfsgerecht vorhanden ist, gleich ob es um Angebote an Frühen Hilfen, an Kitaplätzen, schulischen Ganztagsangebote oder Angebote für Eltern etc. geht. Wie sieht es damit also in der jeweils eigenen Kommune aus? Die Quantitätsfrage ist eine wirkungsvolle Stellschraube für strukturelle Teilhabe oder umgekehrt für strukturelle Ausgrenzung. Je weniger Angebote ich vor Ort habe, desto größer ist der Druck für und seitens der Familien. Diejenigen, die weniger Ressourcen und weniger Durchsetzungskraft haben, können nicht mithalten. Daher ist aus meiner Sicht der zweite große Schritt für Kommunen, viel stärker die Quantitätsfrage auch unter dem Blick der Armutsprävention anzugehen. Bevor ich eine breite Qualitätsdiskussion in den Fokus stelle, ist es meinem Verständnis nach notwendig, eine für alle ausreichende Quantität zu haben.

Der dritte Punkt ist die Gestaltung der kommunalen Infrastruktur. Es sind biografisch – also am Lebenslauf mit seinen spezifischen Entwicklungsaufgaben für junge Menschen – ausgerichtete kommunale Strukturen zu schaffen. Zum Glück haben wir heute das Handlungsfeld der Frühen Hilfen, das in den letzten zehn Jahren wirklich intensiv auf- und ausgebaut worden ist. Wir haben dann dem Lebensalter von Kindern folgend die weiteren Handlungsfelder Kita, Grundschule, weiterführende Schulen und bis hin zum „erfolgreichen Übergang zum Beruf“. Vor Ort müssen diese Felder miteinander strukturell verknüpft und die Arbeit aller dort tätigen Akteure vernetzt werden. Präventionsketten müssen gebildet werden. Dazu braucht es eine kommunale Gesamtstruktur, unterlegt mit einem funktionierenden Konzept der Kommune bzw. des Kreises. Genauso wie zum Beispiel ein Neubaugebiet, also ein neuer sozialer Raum, in einer Kommune nach bestimmten Aspekten entwickelt wird: Wasserversorgung, technische Ausstattung, Straßen, öffentliche Einrichtungen und Plätze – all das folgt einer eigentlich in sich schlüssigen Gesamtgestaltung von der Planung bis zur funktionierenden Nutzung. Ähnlich notwendig ist Infrastruktur für Kinder insgesamt. Wir dürfen gerade hier nicht nach dem Gießkannenprinzip verfahren und irgendwo irgendetwas aufbauen, wir dürfen auch nicht nur einen Tropfen auf den heißen Stein gießen und ein – oft befristetes – Projekt starten, sondern es geht um nachhaltige Strukturbildung, wirkliche Vernetzung und Kooperation.

Sie sprechen die kommunalen Präventionsketten an. Würden Sie diese kurz skizzieren?

Holz: Die Präventionsketten sind zuerst in NRW im Rahmen eines Modellprojekts des Landschaftsverbandes Rheinland entwickelt worden. Sie basieren auf der Annahme, dass allerorts für Kinder und Jugendliche mehr oder weniger öffentliche Angebote bestehen, die auf Armutsfragen, auf schwierige Lebenssituation, auf vulnerable Gruppen Bezug nehmen. Aber keiner wusste, welche und wie viele Angebote es sind, wie die Akteure zusammenarbeiten und welche Ziele sie haben.

Mit Hilfe einer Präventionskette sollen kommunale Strukturen geschaffen werden, quasi durch systematische Verknüpfung von Angeboten sowie der Akteure, also der Fachkräfte, der Institutionen und der kommunalen Verwaltung. Sie sollen gemeinsam eine lebenslauforientierte und entwicklungsbegleitende Kette bilden, deren einzelne Glieder in sich wirken und zugleich an den Übergängen fest verbunden sind. Ein weiterer Anspruch ist, dass sie die Folgen von Armut und sozialen Benachteiligungen auffangen helfen.

Vorhandenes zu verknüpfen, setzt voraus, dass die Fach- und Führungskräfte und die Träger zusammen mit Entscheiderinnen und Entscheidern (Politik und Verwaltung) so etwas wie ein gemeinsames Leitbild schaffen, gemeinsame Ziele festlegen und verfolgen. Der Austausch ist wichtig, aber auch der Prozess, also der Weg hin zu gemeinsamen Ergebnissen. Wie schaffen wir die Infrastruktur für Kinder in Armutslagen? Der Ansatz der kindbezogenen Präventionsketten stellt zum einen ausdrücklich benachteiligte Gruppen in den Fokus, um so soziale Chancengerechtigkeit zu befördern. Er setzt zum anderen an einer unterstützenden, fördernden und schützenden Begleitung von jungen Menschen bis mindestens zum 18. Lebensjahr an. Aber wenn Eltern zu wenig Ressourcen haben, wer begleitet dann diese Kinder? Das genau ist öffentliche Verantwortung, zu sagen, dann müssen wir ihnen Chancen schaffen und sichern, als Kommune und Gemeinschaft. Die Akteure in den Netzwerken sind quasi die lebende öffentliche Verantwortung für armutsbetroffene Kinder, möchte ich sagen.

Ein wichtiges Thema zum Schluss: Wie gelingt eine armutssensible Elternansprache?

Holz: Wenn wir uns mit Armutssensibilität auseinandersetzen, dann ist das in sehr starker Weise eine Beschäftigung mit den eigenen Vorstellungen und Wahrnehmungen, den eigenen Haltungen und Handlungen seitens der Fachkräfte, der Führungskräfte, aber auch der politischen Entscheiderinnen und Entscheider. Also, es wird nicht sofort auf die Familie in Armut, sondern auf uns und unsere Sichtweisen geschaut. Sensibilität bedeutet immer: Ich gucke auf mich selbst, mein Team oder Kollegium, meine Einrichtungen, meine Netzwerke. Zentrale Fragen sind: Was nehmen ich und wir wahr, wo und wie bewerten wir, wo (ver)urteilen wir, wie und wo grenzen ich und wir aus? Sind wir vielleicht nicht auch diejenigen, die zur Diskriminierung sozial benachteiligter Gruppen beitragen? Es ist beispielweise eine strukturelle Diskriminierung, wenn faktisch überhaupt kein gleicher Zugang zu einer Kita vorhanden ist oder wenn in den kommunalen Satzungen von Kitas festgelegt ist, es sollen vorrangig Eltern, die erwerbstätig sind, einen Kitaplatz bekommen. Armutssensibilität zielt auf die Auseinandersetzung mit sich selbst, der eigenen Institution, den Strukturen und damit ein Schauen auf das Geschehen in der Kommune ab: Wo haben wir Bürokratie, die gar nicht so sein muss, wo haben wir Öffnungszeiten oder Finanzierungsmodelle, die bestimmte Gruppen ausgrenzen? Die gleiche Anforderung gilt auch für die Landes- und Bundesebene mit jeweils eigenen Diskursen.

Armutssensibilität zeichnet sich durch Empathie, Wertschätzung und Respekt gegenüber den betroffenen Menschen aus. Wir, die Profis, müssen sehen und erkennen: Wie ist das elterliche Handeln, wie sind ihre Bewältigungsstrategien, was ist ihnen wichtig? Wir müssen lernen zu verstehen und daran anzusetzen, um bedürfnisorientiert Unterstützung geben zu können. Das Handeln und die Bewältigungsstrategien können ganz andere sein als meine. Aber trotzdem darf ich nicht sofort bewerten, sondern ich muss das Andere erst mal verstehen und es respektieren.

Der dritte Punkt ist, dass das ein professioneller Anspruch ist von pädagogisch, politisch, auch therapeutisch Gestaltenden. Armutssensibilität ist Teil von Professionalität seitens der Akteure, dass ich den Blick auf vulnerable Gruppen richte und immer wieder frage, ob sie bei allem, was angeboten wird, auch dabei sind, ob ich die richtige Sprache finde und mir der Zugang gelingt.
Der vierte Punkt ist, dass wir partizipativ arbeiten müssen, dass wir die Zusammenarbeit suchen und den fachlichen Rat durch armutserfahrene Menschen einholen, um mit ihnen gemeinsam etwas zu tun und ihre Perspektive so Teil unseres Handelns und möglicher Entscheidungen wird.

Mein letzter Punkt ist: Armutssensibilität bedeutet, nicht nur durch pädagogisches Handeln, sondern auch durch politisches Gestalten auf allen Ebenen zu wirken. Es geht immer um Verhaltensprävention durch individuelle Förderung und Stärkung des Einzelnen sowie um Verhältnisprävention durch strukturelle Gestaltung. Armut kann nicht durch pädagogische oder therapeutische Interventionen verhindert und begrenzt werden. Armut ist als strukturelles Problem unserer Gesellschaft und nicht als individuelles Versagen zu begreifen. Armutssensibilität umfasst also auch eine gesellschaftliche Dimension – wir haben hierzulande soziale Ungleichheit und Kinderarmut – und erfordert somit politisches Handeln: Was wird für Kinder in Deutschland getan, die von Armut betroffen sind? Wie werden ihre Kinderrechte gesichert und verwirklicht? Was ist mit der Kindergrundsicherung? Armutssensibilität zeigt sich in den Rahmensetzungen und im Sichtbarwerden in politischen Entscheidungsprozessen. Auf das kommunale Geschehen bezogen heißt das: armutsrelevante Themen in den kommunalen Diskurs einbringen, sie in Jugend- und Sozialausschüssen behandeln und zu Beschlüssen führen, zeigen, wo zu wenig für Frühe Hilfen oder Kitas getan wird und genauso für gute Projekte eintreten.

Zusammengefasst basiert Armutssensibilität immer auf Wissen, Haltung und Handeln der Akteure im System. Wenn dies in der Kommune gefördert wird, etwa durch Netzwerktreffen, durch Fortbildungsreihen, durch Teamreflexion in Kitas, Schulen oder Bildungsstätten, als Teil der Qualitätsentwicklung in Einrichtungen und Verwaltungen usw., dann entwickelt sich eine andere Sensibilität gegenüber Eltern und Kindern in finanziell prekärer Lage. Wir alle müssen ein anderes Bild, andere Vorstellungen von Armut, Armutsfolgen für Menschen entwickeln und nicht gleich mit Bewertungen, mit Urteilen oder Verurteilungen reagieren.

Gibt es noch etwas, das Sie den Frühen Hilfen mit auf den Weg geben wollen?

Holz: Die Frühen Hilfen sind vom Anspruch und der Ausgestaltung her wirklich sehr zugänglich, sehr nah an den Menschen. Sie sprechen Emotionen an, schaffen in besonderer Weise Vertrauen und damit Zugänge für Unterstützung und Förderung. Sie bieten dafür tolle Angebote mit hoher Fachlichkeit. Für die Frühen Hilfen ist aber auch die zuvor beschriebene politische und öffentliche Dimension wichtig. Da gibt es noch deutlich Luft nach oben.

Durch Corona und durch die folgenden Krisen wird über Armut öffentlich viel intensiver diskutiert und Vorurteile sind aufgebrochen. Wir merken auf allen Ebenen: Es ist ja gar nicht so, dass arme Eltern sich nicht anstrengen, dass sie nicht aktiv ihr Leben zu bewältigen versuchen, dass sie ihren Kindern keine gute Zukunft schaffen wollen usw. Diese gesellschaftlichen AHA-Effekte empfinde ich als ein großes Gut und Chance zum Abbau von Stigmatisierung. Aber ich habe auch Wünsche. Ich wünsche mir, dass wir als Profis und als Gesellschaft lernen, Krisen nicht mehr anzugehen, ohne explizit auf den besonderen Schutz und die besondere Situation von Kindern und Jugendlichen sofort zu reagieren. Ich wünsche mir, dass wir lernen, dass diejenigen, die die wenigsten Ressourcen haben, die meisten Auswirkungen von Krisen spüren und tragen müssen. Armutssensibilität trägt dazu bei, gemeinsam anders zu handeln und mehr soziale Inklusion zu verwirklichen.