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Wohnortnah integrierte Angebote entwickeln

Dr. Sarah Schmenger und Elisabeth Schmutz, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen beim Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gGmbH (ism), erläutern Strategien, um Familien auch in ländlichen Regionen erreichen und unterstützen zu können. Diese haben sie gemeinsam mit Akteuren im Auftrag des NZFH erarbeitet. Eine Kurzfassung des Gesprächs ist im August 2022 im Infodienst des NZFH, FRÜHE HILFEN aktuell, erschienen.

Was war Ziel der Studie?

Schmutz: Ziel des Projekts war es, gemeinsam mit ländlich strukturierten Kommunen Strategien zu entwickeln, die zur Weiterentwicklung der Frühen Hilfen in ländlichen Räumen beitragen. Hierfür haben wir im Auftrag des NZFH drei Workshops mit Akteurinnen und Akteuren durchgeführt, die Familien im ländlichen Raum unterstützen und uns daher Einblicke in ihren Arbeitsalltag geben konnten. Im Rahmen der Workshops haben wir über die spezifischen Herausforderungen und Gelingensbedingungen für die Frühen Hilfen in ländlichen Räumen diskutiert und nach Ansätzen gesucht, um diesen Herausforderungen besser begegnen zu können.

Was hat den Akteurinnen und Akteuren unter den Nägeln gebrannt?

Schmenger: Eine besondere Herausforderung in ländlichen Räumen ist, dass wohnortnahe, passgenaue Angebote vielerorts fehlen. So gibt es etwa einen Mangel an Hebammen und Kinderärztinnen und Kinderärzten. Für die Familien bedeutet dies, dass sie weit fahren müssen, um Angebote der Frühen Hilfen in Anspruch nehmen zu können. Dabei sind sie auf einen teilweise schlecht ausgebauten, kostenintensiven ÖPNV angewiesen. Aber auch die in den Frühen Hilfen tätigen Fachkräfte müssen oftmals weite Wege zurücklegen, um Familien zu erreichen oder zum Beispiel an Netzwerktreffen teilzunehmen. Diese Arbeitszeit, die quasi auf dem Weg bleibt, wird inzwischen als Ressourcenverlust bezeichnet. Die Akteurinnen und Akteure haben immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Ressourcenverluste bei der Gestaltung und Finanzierung der Frühen Hilfen in ländlichen Räumen berücksichtigt werden müssen, zum Beispiel bei der Bemessung von Fördermitteln und Zuwendungen.

Wo sehen Sie die größten Hürden beim Zugang zu Frühen Hilfen?

Schmutz: Die an unserer Studie beteiligten Fachkräfte erleben immer wieder, dass vielen Familien die Angebote der Frühen Hilfen noch zu wenig oder gar nicht bekannt sind oder bestehende Angebote die Familien nicht erreichen. Ergebnisse der vom NZFH beauftragten iSPO-Studie von 2021 belegen, dass die Entfernung zu den Angeboten die größte und wichtigste Nutzungshürde für die Familien darstellt.

Welche Lösungen haben die Fachkräfte vorgeschlagen?

Schmutz: Die Fachkräfte haben herausgestellt, dass in ländlichen Gebieten aufsuchende, mobile oder integrierte Angebotsformate besonders wichtig sind, um Familien niedrigschwellig zu erreichen. Außerdem schreiben sie Lotsinnen und Lotsen in Geburtskliniken oder ärztlichen Praxen und Kindertageseinrichtungen in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu.

Können Sie bitte die Bedeutung von mobilen, aufsuchenden Angeboten genauer erläutern?

Schmenger: Die Erreichbarkeit der Angebote für die Familien einerseits und die Zugänge zu den Zielgruppen anderseits sind besondere Herausforderungen für die Frühen Hilfen in ländlichen Räumen. Die Familien müssen dort erreicht werden, wo sie sich regelmäßig aufhalten oder wo sie zuhause sind.

Über freiwillige Begrüßungs- oder Willkommensbesuche, Lotsendienste aus Geburtskliniken und Gesundheitsfachkräfte in den Frühen Hilfen können Familien besser auf die Angebote der Frühen Hilfen aufmerksam gemacht oder dorthin vermittelt werden. Vor allem mobile Angebote, die Familien an ihrem Wohnort aufsuchen und sie über die Angebote informieren und am besten direkt vor Ort beraten, sollten verstärkt ausgebaut werden, um Frühe Hilfen in ländlichen Räumen weiterzuentwickeln.

Sind aufsuchende Angebote auf dem Land anders?

Schmutz: Ländliche Gegenden sind durch eine geringere Anonymität gekennzeichnet als Städte: „Man kennt sich.“ Gleichzeitig spielen informelle Regeln und Normen eine wichtigere Rolle als in Städten. Wer von diesen Regelungen abweicht, kann zum Beispiel mit sozialem Ausschluss sanktioniert werden. Ein grundsätzlicher Nachteil von aufsuchenden Angeboten ist ein erhöhtes Stigmatisierungspotenzial der Familie, die die Angebote in Anspruch nimmt. Die Frage „Was denken die Anderen“ und die Angst vor Stigmatisierung kann Familien davon abhalten, Hilfe zu nutzen. Dies ist ein Faktor, der in der Konzeptionierung, Planung und Ausgestaltung von Angeboten Berücksichtigung finden sollte.

Welche Bedeutung haben integrierte Ansätze?

Schmutz: Integrierte Angebote spielen eine wichtige Rolle dabei, Angebotslücken in ländlichen Räumen zu schließen und Zugänge zu und für Familien zu schaffen. Grundgedanke der integrierten Ansätze ist, dass Angebote der Frühen Hilfen an bereits bestehende Regelstrukturen angebunden sind, die von vielen Familien besucht werden und den Eltern schon vertraut sind. Das senkt die Hemmschwelle für die Inanspruchnahme von Unterstützungsmaßnahmen. Ein klassisches Beispiel hierfür sind Kitas und Familienzentren, die auch in ländlichen Räumen flächendeckend vorhanden und in der Regel gut erreichbar sind. Dort können zum Beispiel regelmäßige Sprechstunden der Frühen Hilfen angeboten werden. Neben Kitas werden aber auch Kooperationen der Frühen Hilfen mit ärztlichen Praxen, Geburtskliniken, Schulen oder Familienbildungsinstitutionen umgesetzt.

Welche Rolle spielen Freiwillige in ländlichen Räumen?

Schmenger: Studien zeigen, dass das freiwillige Engagement in ländlichen Räumen grundsätzlich stärker ausgeprägt ist als in Städten. Insofern steckt natürlich ein besonderes Potenzial im Einsatz von Freiwilligen in den Frühen Hilfen in ländlichen Räumen. Ein Angebot, das besonders häufig umgesetzt wird, sind die freiwilligen Familienpatinnen und Familienpaten, die Familien alltagsnah und niedrigschwellig unterstützen.

Die an unserer Studie beteiligten Fachkräfte haben allerdings unterschiedliche Erfahrungen mit der Bereitschaft zu freiwilligem Engagement gemacht. Einige nehmen einen Rückgang an Personen wahr, die sich freiwillig engagieren wollen oder können. Zum Beispiel weil ihnen auf Grund von beruflichen und familiären Verpflichtungen keine Zeit bleibt. Klar war aber für alle Beteiligten, dass Freiwillige zwingend hauptamtlich begleitet und adäquat geschult werden müssen, um Aufgaben klar zu begrenzen und Überforderung zu vermeiden.

Außerdem haben die Fachkräfte betont, dass das Ehrenamt die vorhandenen professionellen Strukturen immer nur ergänzen, nie aber ersetzen kann. Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, kann ein verstärkter Einbezug von Freiwilligen dazu beitragen, Familien in ländlichen Räumen besser zu erreichen, Versorgungslücken zu verkleinern und zum Beispiel über Besuchsdienste oder Familienpatenschaften mit Freiwilligen Unterstützungsbedarfe frühzeitig aufzufangen und Brücken in weiterführende Angebote zu bauen.

Was können die Netzwerke verbessern, um Familien besser zu erreichen und zu informieren?

Schmutz: Über eine regelmäßige, strukturell verankerte Netzwerkarbeit werden der fachliche Austausch und die wechselseitige Information zwischen unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren sichergestellt. In den Netzwerktreffen erfahren die unterschiedlichen Beteiligten von bestehenden oder neu geschaffenen Angeboten und können so als Lotsinnen und Lotsen für Familien in die Angebote fungieren. Auch eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit des jeweiligen Netzwerks kann dazu beitragen, die Bekanntheit der Angebote der Frühen Hilfen zu erhöhen.

Für die Akteurinnen und Akteure der Frühen Hilfen ist die Teilnahme an Netzwerktreffen häufig mit längeren Fahrtzeiten verbunden. Daher haben wir in unserer Studie vorgeschlagen, die Möglichkeit für eine digitale Teilnahme an Netzwerktreffen auszuweiten. Das geht für die Teilnehmenden mit einer Zeitersparnis einher und schont Ressourcen.

Was kann noch  getan werden, um Ressourcenverluste auszugleichen?

Schmenger: Es kann sinnvoll sein, einzelne Landkreise in Sozial- und Regionalräume mit jeweils zuständigen Organisationseinheiten und Netzwerken zu unterteilen. Durch diese Regionalisierung werden mehrere Anlaufstellen für die Familien pro Region geschaffen. Sowohl Familien als auch Fachkräfte müssen dadurch weniger weite Wegstrecken zurücklegen. Außerdem können so überschaubare Arbeitsstrukturen im Netzwerk geschaffen und die Zahl der Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartner begrenzt werden, was auch zu Erleichterungen in der Kooperation beiträgt. Allerdings haben die an unserer Studie beteiligten Akteurinnen und Akteure auch explizit darauf verwiesen, dass die jeweiligen Strukturen und Rahmenbedingungen vor Ort beachtet werden müssen. In sehr großen Gebieten mit vor Ort jeweils sehr heterogenen Bedarfen und Ausgangsbedingungen ist eine Regionalisierung sinnvoll. In anderen Landkreisen wird aber explizit darauf verzichtet, um die Ressourcen der zuständigen Akteurinnen und Akteure sowie Koordinationsfachkräfte zu schonen.

Das verweist auf eine grundlegende Bedingung, die bei der Beschäftigung mit ländlichen Räumen beachtet werden muss: Es gibt nicht „den“ ländlichen Raum. Ländliche Räume sind vielfältig und unterschiedlich. Deswegen braucht es individuelle, auf die jeweiligen Bedingungen vor Ort ausgerichtete Strategien und Maßnahmen, um Frühe Hilfen in ländlichen Räumen weiterzuentwickeln.