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Interprofessionelle Zirkel stärken Kindergesundheit

Ein Gespräch mit Dr. med. Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender  der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), in gekürzter Fassung erschienen im Oktober 2014 im Infodienst "Bundesinitiative Frühe Hilfen aktuell". Unter seiner Leitung führt die KVBW gemeinsam mit weiteren Partnern und gefördert durch das NZFH ein Modellprojekt zum vernetzten Handeln in den Frühen Hilfen durch.

Herr Dr. Metke, was hatte die KVBW vor rund vier Jahren bewogen, ein Pilotprojekt zu Frühen Hilfen zu starten? 

Wir sehen ein echtes Problem in der Frage, wie frühzeitig reagiert werden kann, wenn Kinder in Familien ungünstige Entwicklungsbedingungen haben, die in manchen Fällen dazu führen, dass sie vernachlässigt oder gar misshandelt werden. Das Projekt Frühe Hilfen verfolgt hier einen aus unserer Sicht sinnvollen Ansatz, indem es zum einen den Familien so früh Unterstützung anbietet, um sie selber zu befähigen, ausreichend für ihre Kinder sorgen zu können, und zum anderen dabei auf die Beteiligung und Vernetzung der beteiligten Professionen abzielt. Daher haben wir uns entschlossen, das Projekt zu starten.  

Was würden Sie als Ihr zentrales Anliegen definieren? 

Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass Kinder in Ihren Familien gut gedeihen und aufwachsen können. Hierbei spielen unsere Ärzte und Psychotherapeuten eine wesentliche Rolle. Vor diesem Hintergrund zielen wir auf eine flächendeckende und nachhaltige Vernetzung von Ärzten/Psychotherapeuten und der kommunalen Jugendhilfe im Rahmen der Frühen Hilfen ab. Familien sollen frühzeitig, lückenlos, effektiv und vor allem passgenau unterstützt werden. Langfristig soll dieses Angebot Teil der Regelversorgung werden.  

Welche Ärztegruppen sollen erreicht werden? 

Im Schwerpunkt sollen Kinder- und Jugendmediziner erreicht werden, aber auch, insbesondere im ländlichen Bereich, die familienmedizinisch tätigen Hausärzte. Von hoher Bedeutung sind auch die Frauenärzte, denn inzwischen ist die Bedeutung  der pränatalen Prägung für die zukünftige Entwicklung eines Kindes wissenschaftlich sehr gut erforscht. Außerdem sind sie die ersten Ärzte, die eine Belastung einer schwangeren Frau feststellen können – sie haben also den frühesten Zugang. Aber auch unsere Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder -psychiater sind wichtige Ansprechpartner für die Sorgen und Nöte von Familien. 

Weshalb ist es so wichtig, die Akteure im Gesundheitsbereich stärker in das System Frühe Hilfen einzubinden? 

Letztendlich wird es eine wirksame Unterstützung der Familien nur dann geben, wenn alle Beteiligten eingebunden sind. Vor allem die Ärzte und Therapeuten haben häufig erste und regelmäßige Kontakte zu Kindern und Familien und können einen Hilfsbedarf daher früh erkennen; allerdings brauchen sie auch bessere Kompetenzen in Familiendiagnostik und Beratung. Der nächste Schritt in der Unterstützung ist dann aber auch die Möglichkeit, an weiterführende Unterstützungssysteme wie die Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen der Frühen Hilfen überleiten zu können.  

Würden Sie uns das Kernstück und die Ziele des Projekts kurz erläutern? 

Wir stellen unseren Qualitätszirkeln geschulte Moderatorentandems zur Verfügung. Diese bestehen aus einem Arzt/Psychotherapeuten und einem Partner aus der Jugendhilfe. Beide werden auf die gemeinsame Leitung eines zukünftigen interdisziplinären Qualitätszirkels durch eine Fortbildung vorbereitet. Die beiden Moderatoren gründen dann i.d.R.  einen neuen regional aufgestellten interdisziplinären Qualitätszirkel Frühe Hilfen/Jugendhilfe. An diesem können Ärzte und Psychotherapeuten aus allen Berufsgruppen und ebenso Mitarbeiter der Jugendhilfe teilnehmen. Oft ist auch eine Familienhebamme oder Kinderkrankenschwester mit dabei. Wichtig ist es vor allem, dass die Beteiligten sich gegenseitig kennenlernen, Vertrauen aufbauen und die Handlungsweise, aber auch die Handlungsmöglichkeiten der anderen kennenlernen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich dabei um Beteiligte handelt, die in völlig unterschiedlichen Systemen arbeiten. Damit soll vernetztes Handeln gefördert werden. Zudem werden gemeinsam Prozesse entwickelt, wie in einem konkreten Fall vorgegangen werden kann.  Ein weiterer Effekt ist: Die Tandemmoderatoren geben ihr Wissen, das sie auf weiteren im Projekt angebotenen Fortbildungen erwerben (z.B. Methoden  zur Gesprächsführung) an die Zirkelteilnehmer weiter. Jede Berufsgruppe kann von der anderen etwas für sie Nützliches lernen. 

Welche Strukturen sind in Baden-Württemberg geschaffen worden, um das Projekt zum Erfolg zu führen?  

Die KVBW hat dafür eine eigene Koordinationsstelle und die erforderlichen Gremien geschaffen, die auch über die notwendige Entscheidungskompetenz verfügen. Wir haben 44 Moderatorentandems ausgebildet und 27 Qualitätszirkel Frühe Hilfen gegründet. Es sieht so aus, dass wir eine flächendeckende Versorgung in Baden-Württemberg bald erreicht haben.  Außerdem haben wir jetzt mit dem BKK-Landesverband Süd einen Vertrag abgeschlossen, der eine Vergütung für das Erkennen einer psychosozial belasteten Familie und die anschließende motivierende Beratung zur Hilfeannahme vorsieht. Dazu gehört auch die  Weitervermittlung in das Jugendhilfesystem. Der Vergütungsvertrag ist eingebettet in eine dreiseitige Rahmenvereinbarung zwischen den Krankenkassen, den kommunalen Spitzenverbänden und der KVBW, die sich hier zur Zusammenarbeit verpflichten. Ärzte und Psychotherapeuten, die an diesem Vertrag teilnehmen wollen, müssen sich hinsichtlich der Fallerkennung und motivierender Gesprächsführung schulen lassen. Außerdem müssen sie an einem unserer Qualitätszirkel Frühe Hilfen teilnehmen, um sich dort Hilfe für kritische Fälle zu holen.  

Würden Sie uns die Rahmenvereinbarung noch etwas erläutern? 

Sie ist seit dem 1. Juli 2014 gültig und  enthält die „Spielregeln“ für die Zusammenarbeit. Sie regelt die Vergütung und klärt die erforderlichen Prozesse. Damit gibt es zum ersten Mal eine Abrechnungsziffer für Ärzte im Kontext der Frühen Hilfen. Klar ist, dass dies nur ein erster Schritt sein kann. Wir hoffen, dass wir langfristig noch weitere Partner auf Seiten der Krankenkassen dazu bewegen können, diesem Projekt beizutreten.  

Welche Hürden musste die KVBW überwinden? 

Wir freuen uns, dass wir mit dem BKK-Landesverband einen Partner auf Kassenseite gewonnen haben, mit dem wir hier zusammenarbeiten. Wir sind dankbar für die Bereitschaft, sich mit uns dieses Themas anzunehmen. Die größte Hürde aber sind die unterschiedlichen Systeme Gesundheit – Jugendämter mit unterschiedlichen Kulturen, Rechtsgrundlagen usw. 

Das Modell wird wissenschaftlich begleitet. Was hat sich durch das Projekt verändert? 

Insbesondere Ärztinnen und Ärzte, die sich mit Frühen Hilfen noch wenig befasst haben, profitieren von positiven Effekten. Ihre Selbsteinschätzung wurde evaluiert, demnach verzeichnen sie selbst eine  Zunahme von Kompetenz. 

Welche Vorteile ergeben sich speziell für das Gesundheitswesen? 

Das ist derzeit noch nicht zu beurteilen. Wir müssen erst einmal Erfahrungen sammeln. Das Projekt ist aber nicht darauf angelegt, Geld zu sparen. Entscheidend ist es, dass den Kindern und ihren Familien geholfen wird. Wer sich nur einen Augenblick vor Augen hält, welche gravierenden Langzeitfolgen chronische Vernachlässigung oder Gewalterfahrungen nach sich ziehen, dass teilweise ganze Lebensläufe buchstäblich zerstört werden, der wird schnell merken, wie wichtig es ist, hier frühzeitig tätig zu werden. Oft sind es aber auch vorübergehende Krisen innerhalb von Familien oder ein Kind, das besondere Anforderungen an seine Eltern stellt. Hier ist die richtige Hilfe, z.B. eine Familienhebamme oder eine entwicklungspsychologische Beratung,  zu einem frühen Zeitpunkt ausreichend, um korrigierend und dauerhaft zu wirken.   

Trägt das Projekt zur besseren gesundheitlichen Versorgung bei? 

Das ist das Ziel des Projekts. Wir wollen dazu beitragen, dass die Zahl von Kindern, die sich gesundheitlich aufgrund ungünstiger familiärer Verhältnisse nicht gut entwickeln, deutlich abnimmt. Die steigende Zahl von sogenannten „neuen Morbiditäten“ bei Kindern und Jugendlichen wie Adipositas, Diabetes, ADHS zeigt, dass Handlungsbedarf von unserer Seite besteht. Sie stehen häufig in engem Zusammenhang mit der sozialen Lage und dem familiären Umfeld, in dem ein Kind aufwächst. Das Projekt ist hier ein wichtiger Baustein.

Infodienst Bundesinitiative FRÜHE HILFEN aktuell