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Konzepte von Elternschaft, Geschlecht und Familie im Kontext von Migration und Flucht

Impulsvortrag

Prof. Dr. Leonie Herwartz-Emden, Universität Augsburg (i. R.)

Wie wirkt Flucht auf die Beziehungsdynamik von Familien? Und welche Bedeutung haben dabei Geschlechterbilder und Konzepte von Elternschaft? Diesen und weiteren sozialisationstheoretischen Fragen ging Prof. Dr. Leonie Herwartz-Emden, Universität Augsburg (i.R.), in ihrem Vortrag nach. Sie zeigte auf, dass Sozialisation vor dem Hintergrund von Migration und Fluchterfahrung vielfältigen, individuell unterschiedlichen Einflüssen unterliege. "Es gibt nicht die Familie mit Fluchthintergrund", so Leonie Herwartz-Emden. "Selbst Familien, die aus demselben Herkunftsland kommen, bilden keine soziokulturell homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich stark – durch spezifische Hintergründe, ihre Ressourcen, Interessen und Stärken." Zugleich veränderten sich die Familien und ihre Mitglieder auf individuelle Weise mit den Erfahrungen, die sie im Kontext ihrer Flucht und Ankunft machten.

Unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer bisherigen Sozialisation seien Geflüchtete im Aufnahmeland damit konfrontiert, wie andersartig ihre neue gesellschaftliche und kulturelle Umgebung ist, erläuterte Leonie Herwartz-Emden. Dabei durchliefen sie einen meist belastenden Anpassungsprozess, der in der Soziologie als "Akkulturation" bezeichnet werde. In diesem Prozess seien geflüchtete Familien mit vielfältigen Erwartungen konfrontiert. Beispielsweise erfordere die Kommunikation mit Institutionen wie Kindertagesstätte oder Schule, sich mit Erziehungs- und Betreuungsthemen auseinanderzusetzen. Und so auch mit Geschlechterrollen. Diese und ähnliche Alltagsanforderungen rückten die Geschlechterfrage immer wieder in den Vordergrund. "Dabei verschieben sich geschlechtstypische Vorstellungen und Aufgabenfelder ebenso wie Konzepte von Mutter- bzw. Vaterschaft", so Leonie Herwartz-Emden.

Auf Basis ihrer langjährigen Forschung machte die Pädagogin darauf aufmerksam, dass auch Fachkräfte den geflüchteten Familien mit stereotypen Vorstellungen begegneten: "Institutionen heben häufig die Normalität der einheimischen Familie in den Vordergrund. Gleichzeitig vermitteln sie den Geflüchteten, defizitär zu sein und dass diese Defizite bezogen auf Familie und Sozialisation im deutschen System nachgeholt werden müssen. Das erzeugt erhebliche Verunsicherung."

Aus Sicht von Leonie Herwartz-Emden erklärten Hilfseinrichtungen die kulturellen Unterschiede zu wenig. Stattdessen reproduzierten sie Stereotypen und setzten subtile Standards – vom "guten Kind", von "gelungener Entwicklung" oder von dem, was eine "gute Mutter" oder ein "guter Vater" tun sollte. "Hier ist ein differenzierter Blick und Kommunikation mit den Geflüchteten über Unterschiede notwendig", so Leonie Herwartz-Emden. "Nur so entsteht ein Niveau von gegenseitigem Respekt."

Den Frühen Hilfen empfahl die Erziehungswissenschaftlerin, geschlechtsbezogene Aspekte differenzierter in Projektkonzepte zu integrieren. Dazu gehöre aus ihrer Sicht auch, die interkulturelle und geschlechtergerechte Kompetenz der Akteurinnen und Akteure zu stärken. Praxisansätze sollten außerdem eine emphatisch begleitete Reflexion des Integrationsprozesses beinhalten.