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Fitmachen für Planung und Monitoring

Dr. Jens Pothmann, Geschäftsführer der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik im Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund, weist auf Stärken und Schwächen der Statistik hin und sieht in mehr »Planungsressourcen« in den Frühen Hilfen den richtigen Weg. Für die Ende des Jahres 2019 veröffentlichte Ausgabe FRÜHE HILFEN aktuell zum Schwerpunktthema "Die Kinder- und Jugendhilfestatistik" gibt Jens Pothmann in dem Gespräch Einblicke in die Erhebung, Auswertung und Interpretation von Daten.

Seit einigen Jahren veröffentlichen die Statistischen Ämter regelmäßig Daten zu Einschätzungen der Jugendämter über mögliche Kindeswohlgefährdungen in ihrem Zuständigkeitsbereich – zuletzt im September 2019. Woher kommen diese Zahlen?

Dr. Jens Pothmann: Es sind amtliche Daten zu den Gefährdungseinschätzungen der Jugendämter – auch „8a-Verfahren“ genannt. Durch die Novellierung des SGB VIII durch das Bundeskinderschutzgesetz konnte 2012 die Datenbasis zum institutionellen Kinderschutz mit einer zusätzlichen amtlichen Erhebung erweitert werden. Die Jugendämter wurden vom Gesetzgeber verpflichtet, jährlich dem Statistischen Landesamt solche Fälle zu melden, in denen sie eine Gefährdungseinschätzung nach § 8a Absatz 1 SGB VIII vorgenommen haben. Dabei sollte nicht jeder Hinweis oder Anruf beim Jugendamt gezählt werden, sondern es geht um die Fälle mit gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung, bei denen mehrere Fachkräfte gemeinsam das Gefährdungsrisiko abschätzen.

Was sagen die Zahlen aus? Ergeben sie ein realistisches Bild über das Ausmaß von Vernachlässigungen und Misshandlungen?

P: Nein, es ist ein Irrtum zu glauben, dass diese Statistik das genaue Ausmaß von Kindeswohlgefährdung messen kann. Hier sind wir weiterhin auf mehr oder weniger plausible Schätzungen angewiesen bzw. auf einschlägige Untersuchungen, wie sie auch vom NZFH gefördert und durchgeführt werden. Die Perspektive oder auch die Stärke der „8a-Statistik“ ist eine andere. Sie sagt etwas über das Handeln der Jugendämter im institutionellen Kinderschutz aus, betrachtet die hinter den Daten stehenden Fälle also durch eine Art „Institutionenbrille“. Um es klar zu sagen: Die Zahlen bilden damit nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit ab, aus meiner Sicht aber einen sehr wichtigen. In den letzten Jahren haben wir es auch über diese Statistik geschafft, die Arbeit der Jugendämter bei solchen Schlüsselprozessen wie den „8a-Verfahren“ zumindest etwas transparenter zu machen. Wir wissen zwar immer noch zu wenig über den vielleicht wichtigsten Akteur in der Kinder- und Jugendhilfe, aber immerhin ist die Datenbasis breiter und belastbarer als noch vor zehn Jahren. Das zeigen auch unsere Analysen in der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, beispielsweise im Kinder- und Jugendhilfereport 2018 oder auch im vom NZFH bislang dreimal herausgegebenen Datenreport Frühe Hilfen.

Wofür braucht man solche Statistiken und wie können die Zahlen genutzt werden?

P: Jegliche Art von Statistik dient zunächst einmal dem Ziel, Wirklichkeit so vollzählig und vollständig wie möglich zu erfassen. Das gelingt für den Kinderschutz oder auch für Felder wie das der Frühen Hilfen nie so ganz, aber es soll über die Zahlen zumindest ein objektives Bild der sozialen Realität entstehen. Dabei meint objektiv, dass das Ergebnis für alle Betrachtenden nachvollziehbar ist und es sich nicht nur um eine Sammlung von subjektiven Eindrücken handelt. Es geht bei der Statistik immer um eine Form der regelmäßigen, systematisierten und organisierten Beobachtung.

Nehmen wir einmal das Beispiel einer Kommune mit zahlreichen Angeboten der Frühen Hilfen, aber einer fehlenden bzw. unzureichenden Planung und Qualitätsentwicklung – eine Konstellation, die das NZFH über verschiedene Projekte verbessern möchte. Statistiken dürfen in diesen Fällen nicht Selbstzweck sein, sie sind aber auch keine Selbstläufer. Richtig eingesetzt können sie als Ressource für Planungs- und Entwicklungsprozesse genutzt werden. Indikatorengestützte Formen eines Monitorings liefern nicht nur wichtige Erkenntnisse über die soziale Wirklichkeit der Frühen Hilfen, sondern sie helfen auch, die richtigen Fragen zu stellen. Sie können für Problemlagen und Handlungsbedarfe sensibilisieren und unterstützen eine möglichst konkrete Benennung von Entwicklungsaufgaben und Zukunftsprojekten. Eine fundierte Datengrundlage ist aber auch in der Lage, so etwas wie einen gemeinsamen Diskussionsrahmen abzustecken. Die Empirie schafft also eine Gesprächsgrundlage – für die Praxis, aber auch im politischen Raum. Anders gesagt: Die Zahlen sind ein Ausgangspunkt, sich über Vorstellungen und Zielsetzungen auszutauschen und zu verständigen. Im besten Fall ermöglichen sie einen strukturierten und zielorientierten Dialog.

Kommen wir noch einmal auf die Ergebnisse der amtlichen Statistik zu den 8a-Verfahren zurück: Die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik wertet die Angaben der Jugendämter regelmäßig aus. Es fällt auf, dass die Zahlen von Kommune zu Kommune, auch bei fast gleicher Einwohnerzahl,  sehr unterschiedlich sind. Wie kommen solche Unterschiede zustande?

P: Solche Unterschiede sind nicht nur durch einen Faktor zu erklären, sondern es kommen in der Regel mehrere zusammen. Grundsätzlich kann man aber davon ausgehen, dass die unterschiedliche Organisation und die verschiedenen Arbeitsweisen der Jugendämter eine wichtige Rolle spielen werden. Das bezieht sich im Übrigen auch auf den Umgang mit der Statistik. In einigen Ämtern wird nahezu ohne weitere Prüfung des Einzelfalls ein „offizielles 8a-Verfahren“ eingeleitet, was dann auch in die Statistik eingeht. Hier wird die Statistik zu einem bloßen Legitimationsinstrument degradiert. Das heißt: So wertvoll die amtliche Statistik zu den Gefährdungseinschätzungen auch ist, die Qualität der Daten muss an dieser Stelle noch besser werden; die Vergleichbarkeit der kommunalen Ergebnisse ist sicher ausbaufähig.

Aus unseren Forschungsarbeiten wissen wir aber auch, dass weder die Zahl der Gefährdungseinschätzungen noch die der festgestellten Kindeswohlgefährdungen von Faktoren wie Einwohnerdichte oder Kinderarmut abhängig sind. Vielmehr deutet sich für die etwa 560 Jugendämter in Deutschland ein Muster an, nach denen das Ausmaß der aufgedeckten Kindeswohlgefährdungen vor allem von der Anzahl der durchgeführten Verfahren abhängt.1  Etwas zugespitzt lässt sich also schlussfolgern: Wenn ein Jugendamt vergleichsweise wenig Kindeswohlgefährdungen feststellt, ist das Grund genug, sich das einmal genauer anzusehen. Bedeutet dieses Ergebnis, dass vor Ort – vielleicht auch wegen der Frühen Hilfen – Prävention besonders gut funktioniert und das Eingreifen des Jugendamtes damit nicht notwendig ist oder gibt es Hinweise darauf, dass örtliche Strukturen und Netzwerke Defizite beim Erkennen von bzw. Reagieren auf Gefährdungslagen haben?

Bislang ist nur von den Zahlen der Jugendämter die Rede. Damit fehlen doch die entsprechenden Verfahren der freien Träger komplett, die auch dem Schutzauftrag im § 8a SGB VIII verpflichtet sind. Warum werden ihre Gefährdungseinschätzungen nicht im Rahmen der amtlichen Statistik gezählt und damit auch sichtbar gemacht?

P: Richtig, auch das ist ein Aspekt, den man beim Blick auf die Zahlen nicht aus den Augen verlieren sollte. Die Freien Träger werden schließlich über Vereinbarungen mit den Jugendämtern (§8a, Absatz 4 SGB VIII) dazu angehalten, bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung eine eigene Gefährdungseinschätzung vorzunehmen. Das Jugendamt hat damit zunächst einmal nichts zu tun. Diese Verfahren sind natürlich nicht weniger wichtig als die, die jetzt in der „8a-Statistik“ erfasst werden. Eine statistische Erfassung scheiterte im Vorfeld des 2012 in Kraft getretenen Bundeskinderschutzgesetzes an der Praktikabilität und Umsetzbarkeit für die Statistischen Ämter und die Freien Träger. Das hatte damals schon mit der Frage nach einem einheitlichen Erhebungsbogen für alle Arbeits- und Handlungsfelder, von der Kindertageseinrichtung bis zum Jugendzentrum, begonnen und erstreckte sich bis zu der Frage nach dem Aufbau eines vollzähligen Berichtskreises der Träger für eine amtliche Statistik. Außerdem würden bei einer solchen Ausweitung der amtlichen Statistik die Gefährdungseinschätzungen, die der freie Träger dem örtlichen Jugendamt nach den gesetzlichen Vorgaben melden muss und die dort wiederum vom ASD gesondert bewertet werden müssen, doppelt gezählt werden.

Aber reicht dann die amtliche Statistik aus, um das Agieren im Rahmen des Schutzauftrags bei möglichen Kindeswohlgefährdungen sichtbar und besser nachvollziehbar zu machen?

P: Mit einer einzelnen Statistik ist das meiner Meinung nach gar nicht möglich. Wir müssen unterschiedliche Puzzleteile zusammenlegen, um ein halbwegs realistisches Bild zu bekommen. Um beim Beispiel der Gefährdungseinschätzungen zu bleiben: Wir wissen derzeit noch nicht genug darüber, wie die freien Träger ihren Schutzauftrag tatsächlich ausgestalten und welche Unterschiede es auch zwischen einzelnen Trägern gibt. Darüber brauchen wir konkrete Studien quantitativer und qualitativer Natur. Das gilt im Übrigen auch mit Blick auf die im Gesetz erwähnten insoweit erfahrenen Fachkräfte und ihren Wirkungsbereich. Wir haben keine bundesweit validen Angaben darüber, wie häufig die freien Träger von der Möglichkeit Gebrauch machen, die insoweit erfahrenen Fachkräfte für Beratung und Unterstützung hinzuziehen. Auch gibt es nur vage Hinweise darauf, wie das Aufgabenprofil oder besser die vermutlich sehr unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche der insoweit erfahrenen Fachkräfte aussehen. Da hilft aber auch keine amtliche Statistik; hier würden vielmehr gezielte Forschungen Abhilfe schaffen.

Infodienst FRÜHE HILFEN aktuell

Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe des Infodienstes ist das Thema Kinder- und Jugendhilfestatistik. Einmal jährlich veröffentlicht das Statistische Bundesamt Daten zur Kinder- und Jugendhilfe. Die Interpretation stellt oftmals selbst Fachkräfte vor Herausforderungen, denn die Zahlen können häufig keine direkten Antworten liefern. Vielmehr bilden sie die Aktivität der Jugendämter ab.

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