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Wissen und Erfahrungen teilen

Frühe Hilfen im deutschsprachigen Raum

Mitte März in Dornbirn, im österreichischen Bundesland Vorarlberg: Fachleute aus fünf deutschsprachigen Ländern und Regionen – Österreich, Südtirol, Schweiz, Liechtenstein und Deutschland – tauschen sich zwei Tage lang intensiv über Konzepte, Umsetzungserfahrungen und Forschungsergebnisse zu den Frühen Hilfen aus. Im Vorfeld berichten Verantwortliche über Stand und Entwicklung der Frühen Hilfen.

Gleiche Ziele, verschiedene Wege

Das Ziel Früher Hilfen, Kindern ein gesundes und gewaltfreies Aufwachsen zu ermöglichen und hierfür insbesondere belastete Familien durch ein vernetztes und breites Angebot zu unterstützen, teilen alle Verantwortlichen. Allerdings: Kein Königsweg führt direkt dorthin. Vielmehr müssen alle Länder und Regionen ihren eigenen Weg aus den jeweiligen Bedarfen und politischen Strukturen heraus unterschiedlich gestalten. So setzt die Schweiz einen Schwerpunkt auf den Bildungsbereich; Österreich hat Frühe Hilfen aus dem Gesundheitsbereich, Deutschland aus dem Kinder- und Jugendhilfesystem heraus entwickelt. Südtirol erprobt die Kooperation von Sozial- und Gesundheitswesen, Erziehungs- und Bildungsbereich in einem Pilotprojekt, und Liechtenstein sieht die enge Vernetzung aller relevanten Bereiche ohnehin gegeben, weil die Akteure sich überwiegend bereits persönlich kennen. Alle gemeinsam setzen sie dabei auf interprofessionelle Zusammenarbeit in kommunalen Netzwerken.

Der Stand des Ausbaus reicht von "nahezu flächendeckend" wie in Deutschland bis zu Pilotstadien in Liechtenstein, Südtirol und der Schweiz, wo die Unterschiede in der Versorgung von Kanton zu Kanton groß sind. In Österreich hat gut die Hälfte der Familien mittlerweile Zugang zu Frühen Hilfen: "In Österreich leben aktuell rund 55 Prozent der Bevölkerung im Einzugsbereich eines regionalen Frühe-Hilfen-Netzwerks. Die Familien werden aktiv und systematisch erreicht. Berufsgruppen und Einrichtungen, die mit (werdenden) Familien und Kleinkindern arbeiten, erkennen den Bedarf und stellen mit Zustimmung der Familien direkt den Kontakt zum jeweiligen Netzwerk her. Familien können sich auch selbst bei den Netzwerken melden; der Zugang zum Angebot soll aber nicht vom Informationsstand der Familien abhängig sein. Die Familien werden über längere Zeit kontinuierlich, umfassend, niederschwellig und bedarfsgerecht begleitet." Dr. Sabine Haas ist Leiterin des NZFH in Österreich.

Die Herausforderungen reichen von der Erhebung belastbarer Daten zu frühen Hilfesystemen (Liechtenstein) über eine regionale Angleichung des Angebots und Finanzierungsfragen (Italien) bis zur Sicherstellung nachhaltiger und flächendeckender Frühe-Hilfen-Systeme in Österreich. In der Schweiz geht es vorrangig um den Aufbau von Strukturen und Vernetzung: "Auf institutioneller Ebene braucht es eine verstärkte strategische Planung der Versorgung im Frühbereich sowie Maßnahmen für eine verbesserte Koordination der bestehenden Angebote und eine markante Steigerung der interprofessionellen Zusammenarbeit. Idealerweise ist diese Koordination und Vernetzung gekoppelt mit einer professionellen Unterstützung und Begleitung sozial benachteiligter und mehrfach belasteter Familien mit und ohne Migrationshintergrund." Prof. Dr. Martin Hafen ist Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern in der Schweiz mit Schwerpunkt Frühe Förderung.

Regionalspezifische Besonderheiten beeinflussen die Implementierung Früher Hilfen: Fläche, Einwohnerzahl, finanzielle Ressourcen und vieles mehr, dazu Kulturräume und die Verfügbarkeit von Arbeitskräften. "Die Frühen Hilfen werden in Südtirol sowohl in deutscher als auch in italienischer Sprache vorangebracht. Es ist nicht immer einfach ein Konzept, das im deutschsprachigen Raum entwickelt wurde, den italienischsprachigen Fachleuten nahezubringen. Als problematisch für die Umsetzung der Frühen Hilfen wird das Fehlen von Ressourcen wie beispielsweise der Familienhelferinnen und -helfer betrachtet, die es in Südtirol derzeit nicht gibt." Dr. Christa Ladurner ist Koordinatorin der Fachstelle Familie im Forum Prävention in Südtirol.

Österreich und besonders Deutschland begleiten die Frühen Hilfen intensiv durch Forschung und Evaluation. Auf dieser Basis werden Standards erarbeitet und die Qualitätsentwicklung forciert. "Von Beginn an haben die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation die Entwicklung guter Praxis Früher Hilfen in Deutschland vorangebracht. Eine große aktuelle Herausforderung ist es, den Bedarfen der Familien gerecht zu werden und die Angebote vor Ort daran auszurichten." Mechthild Paul, Leiterin des NZFH Deutschland.

Wissenschaftliche Erkenntnisse bilden eine solide Basis für politische Richtungsentscheidungen zu Frühen Hilfen, und sie leisten auch den Nachbarländern Unterstützung: "Die Tatsache, dass Frühe Hilfen eine wissenschaftliche Fundierung haben, erleichtert das Umsetzen des Konzepts ganz wesentlich. Wir hoffen die wissenschaftliche Diskussion und die praktischen Umsetzungen auch mit unseren Erfahrungen in den kommenden Jahren bereichern zu können", sagt Christa Ladurner aus Südtirol.

Die Entwicklung Früher Hilfen

Bereits ab 2006 wurden in Deutschland bundesweit Modellprojekte Früher Hilfen erprobt. 2007 wurde das Nationale Zentrum Frühe Hilfen als Koordinierungsstelle eingerichtet; die Bundesinitiative Frühe Hilfen hat von 2012 bis 2017 den flächendeckenden Auf- und Ausbau Früher Hilfen in Deutschland begleitet und u. a. die Qualitätsentwicklung vorangebracht. Seit Januar 2018 setzt eine Bundessstiftung diese Arbeit fort. Sie fördert dauerhaft die Netzwerke Frühe Hilfen und stellt die psychosoziale Unterstützung von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern sicher.

In Österreich wurden 2009 in Vorarlberg erste Praxisprojekte Früher Hilfen erprobt. 2014 entstanden in fünf Bundesländern weitere Modellregionen und ab 2015 erfolgte in allen Bundesländern – in Kooperation von Gesundheitsbereich und Kinder- und Jugendhilfe – der Aus- und Aufbau von regionalen Frühe-Hilfen-Netzwerken nach einem einheitlichen Konzept.

Mit zwei großen Studien, die viel zu geringe Investitionen in den Bereich frühkindlicher Förderung kritisieren, setzte 2009 auch in der Schweiz eine Dynamik pro Frühförderung ein. Anders als in Österreich und Deutschland nimmt der Staat in der Schweiz aber eine eher marginale Rolle bei Ausbau und Förderung ein; es bleibt den relevanten Bundesämtern für Sozialversicherung, für Gesundheit oder dem Staatssekretariat für Migration überlassen, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für Frühe Hilfen zu engagieren. Mittlerweile hat knapp die Hälfte der Kantone eine Strategie Früher Förderung. Letzten Endes liegt die Hauptverantwortung der Ausgestaltung aber bei den Gemeinden, die sehr unterschiedlich aktiv sind.

In Südtirol gab es in den 2010er-Jahren schon zahlreiche Angebote für Familien mit Kindern bis zu drei Jahren, aber erst aufgrund einer Analyse des Ist-Zustandes 2016 wurde beschlossen, neue Wege der Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten aus dem Gesundheits-, Sozial und Betreuungsbereich zu beschreiten und Frühe-Hilfen-Systeme zu implementieren. Im Rahmen eines Pilotprojekts werden derzeit die Frühen Hilfen Südtirol in einem städtischen und einem ländlichen Einzugsgebiet als Kooperationsprojekt des Sozial- und Gesundheitswesens sowie des Erziehungs- und Bildungsbereichs realisiert.

Im Liechtenstein mit 38.000 Einwohnern stellt sich die Ausgangssituation ganz anders dar: "Jeder kennt jeden, die Wege sind kurz. In Liechtenstein sind grundsätzlich die notwendigen Angebote für Schwangere und junge Familien bereits vorhanden. Die Frage ist, ob das Helfersystem funktional im Sinne der Frühen Hilfen kooperiert und wenn nein, wie dies verbessert werden kann. Wir analysieren derzeit den Bedarf an Frühen Hilfen. Zu diesem Zweck laufen zwei Erhebungen. Wir werden uns hüten, Konzepte großer Länder einfach auf Liechtenstein zu übertragen. Vielleicht geht es auch einfach, schlanker." Mag. Christoph Jochem ist Leiter der Sophie- von Liechtenstein Stiftung in Liechtenstein.

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