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Aufgaben und Rollen freiberuflicher Hebammen in den Frühen Hilfen. Vorstellung des Eckpunktepapiers

Prof. Dr. Martina Schlüter-Cruse, Professorin für Hebammenwissenschaft an der Hochschule für Gesundheit in Bochum, stellte die wesentlichen Inhalte des Eckpunktepapiers vor, das im Auftrag des Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erstellt wird. Es beleuchtet die freiberufliche Hebammenarbeit an der Schnittstelle zu den Frühen Hilfen aus theoretischer und praktischer Perspektive.

Die Expertin und Autorin des Eckpunktepapiers beschrieb zunächst das Präventions- und Kooperationsverständnis freiberuflich tätiger Hebammen und leitete darauf aufbauend Empfehlungen für die Praxis der Frühen Hilfen ab.

Welches Potenzial steckt in der Arbeit freiberuflicher Hebammen mit Blick auf Familien und Frühe Hilfen?

Ein wesentliches Merkmal der Arbeit freiberuflicher Hebammen sei der stigmatisierungsfreie Zugang zu Familien, da sich die Leistungsangebote an alle gesetzlich versicherten Frauen und Familien richteten, unabhängig von ihren sozialen und medizinischen Belastungen. Durch die Möglichkeit, Frauen und Familien bereits vor der Geburt und im häuslichen Umfeld zu betreuen, verfügten freiberufliche Hebammen außerdem über einen besonders frühen und vertrauensvollen Zugang zu den Familien. Diese Merkmale führten dazu, dass sie mögliche Belastungen der Familien bereits während der Schwangerschaft oder im Wochenbett wahrnehmen und Familien mit einem besonderen Unterstützungsbedarf an Frühe Hilfen vermitteln könnten.

Auf welchen gesetzlichen Grundlagen basiert die Betreuung durch Hebammen an der Schnittstelle zu Frühe Hilfen?

Hebammen seien nach dem Hebammengesetz befugt, die regelrecht verlaufende Schwangerschaft, Geburt sowie das physiologische Wochenbett und die Stillzeit eigenverantwortlich zu betreuen. Bei Auftreten von Auffälligkeiten seien sie verpflichtet, die im jeweiligen Fall angemessenen Maßnahmen für eine ärztliche Behandlung zu ergreifen. Damit sei die Schnittstelle zur ärztlichen Versorgung klar festgelegt.  

Welches Verständnis von Prävention liegt der Arbeit freiberuflicher Hebammen zugrunde?

Martina Schlüter-Cruse erläuterte, dass freiberufliche Hebammen einen salutogenetischen und ressourcenorientierten Betreuungsansatz verfolgten, mit dem Ziel, das Selbsthilfepotential der Familien und die Elternverantwortung zu fördern. Damit seien das Grundverständnis der aufsuchenden Hebammentätigkeiten und der Frühen Hilfen identisch und die Grundlage für eine Zusammenarbeit mit Netzwerken Frühe Hilfen gegeben.

Aus der für die Hebammentätigkeit typischen Begleitung physiologischer Entwicklungsprozesse könnten sich dann diagnostische, pflegerisch-therapeutische und praktisch anleitende Handlungsformen ergeben.

Welche Herausforderungen ergeben sich in der Betreuung der Familien?

Die Expertin erläuterte, dass freiberufliche Hebammen, die Frauen und Familien nach der Geburt zu Hause betreuen, häufig im Spannungsfeld zwischen regelrechten und regelwidrigen Zuständen und Situationen tätig seien, die ein Abwägen zwischen abwartendem und intervenierendem Handeln erforderten.

Sie stützte sich auf eine qualitative Studie zum professionellen Handeln von Hebammen in der ambulanten Wochenbettbetreuung.

Diese zeige auch, dass insbesondere im Bereich der häuslichen Versorgung solche Situationen freiberufliche Hebammen vor die Herausforderung stellten, die Balance zwischen Nähe und Distanz zu wahren, da sie neben der körpernahen Betreuungsarbeit insbesondere die Lebenssituation der Frauen und Familien im Blick haben müssten.

Wie blicken Hebammen selbst auf die Zusammenarbeit mit den Frühen Hilfen?

Im Rahmen der ambulanten geburtshilflichen Versorgung seien Hebammen vor allem mit den Berufsgruppen und Institutionen des Gesundheitswesens vernetzt, insbesondere mit Fachkräften der Gynäkologie, Pädiatrie und Geburtshilfe. Neu sei – mit Blick auf die Frühen Hilfen – für Hebammen die Vernetzung mit anderen Leistungssystemen, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe. Dies führe dazu, dass sowohl Aufgaben, Zuständigkeiten, Routinen und Verfahren neu verhandelt werden müssten. Außerdem müsse eine gemeinsame Sprache und Interpretation der Bedarfe der Frauen und Familien sowie der Handlungsoptionen der Fachkräfte gefunden werden.

Wie kann die Einbeziehung freiberuflicher Hebammen in die Netzwerke Frühe Hilfen gelingen?

Als wesentliche Parameter, die das Gelingen der Zusammenarbeit von freiberuflichen Hebammen in den Frühen Hilfen förderten, nannte die Referierende zunächst die Akzeptanz unterschiedlicher Fachsprachen und Fachlogiken sowie Raum für gegenseitige Verständigung. Weiterhin seien Informationen über kommunale Angebote und Ansprechpersonen in den Frühen Hilfen notwendig sowie die Klarheit über kommunale Kontaktpersonen und Verfahren bei Anhaltspunkten für einen Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung.

Was wissen Familien über freiberufliche Hebammenleistungen und wie nutzen sie diese?

Studien zeigten, so die Referierende, dass Kenntnisse über Hebammenarbeit und deren Inanspruchnahme von den Lebenssituationen der Familien abhängig seien. So sei eine geringere Inanspruchnahme bei Familien und Frauen in sozial belastenden Lebenslagen zu beobachten, die beispielsweise von Arbeitslosigkeit betroffen seien oder einen geringeren Bildungsgrad hätten.

Wie gelangen Frauen an Informationen über Leistungen und Angebote freiberuflicher Hebammen?

Die wichtigsten Quellen für Informationen über Hebammenleistungen seien informelle Beziehungen wie Familie, Freunde oder Bekannte. Darüber hinaus seien Leistungen und Angebote von Hebammen zahlreichen Frauen aus dem Geburtsvorbereitungskurs, von einer vorhergehenden Schwangerschaft oder Geburt sowie durch Hinweise von Arzt oder Ärztin bekannt.

Als überraschend bezeichnete Martina Schlüter-Cruse, dass Schwangerenberatungsstellen bisher nur wenig mit freiberuflichen Hebammen verknüpft seien und diese weniger häufig als Informationsquellen ausgemacht würden.

Was bedeuten die Unterschiede der Kenntnisse und Inanspruchnahme für Frühen Hilfen?

Um Frauen und Familien in psychosozialen Belastungslagen zu erreichen, sie über die Leistungen freiberuflicher Hebammen und Angeboten der Frühen Hilfen zu informieren und gegebenenfalls zur Inanspruchnahme zu motivieren, sei ein breites Netz an Zugangswegen aus unterschiedlichen Systemen nötig. Damit, so die Verfasserin des Eckpunktepapiers, stellt sich zwangsläufig die Frage wie Informationswege über Versorgungsleistungen von Hebammen angepasst werden können.

Welche Empfehlungen können aus den Erkenntnissen für die Praxis der Frühen Hilfen abgeleitet werden?

Die abschließend und zusammenfassend formulierten Empfehlungen orientierten sich an den beiden Leitfragen: Wie können Frauen und Familien in psychosozialen Belastungslagen bestmöglich unterstützt werden? Welche fachlichen und strukturellen Änderungen sind notwendig?

Fünf zentrale Aspekte hob Martina Schlüter-Cruse hervor und führte sie aus:

  • Systematischer Ausbau von Zugangswegen für Familien
    So hätten sich Hebammenzentralen als ein wichtiger Schlüsselfaktor zur niedrigschwelligen systematischen Vermittlung in vielen Städten bewährt und sollten flächendeckend etabliert werden. "Mit Hebammenzentralen haben Frauen und Familien eine zentrale Anlaufstelle für die Suche nach einer Hebamme, die Hebammen können freie Kapazitäten melden und Vertretung organisieren", so die Expertin zu dem Zugangsvorschlag.  Darüber hinaus sollten Schnittstellen zu wichtigen Kooperationspartnern, insbesondere zu Schwangerschaftsberatungsstellen verstärkt werden. Neben Präsenzangeboten sollten auch zielgruppenspezifisch aufgebaute Online-Plattformen ergänzend zu der kommunalen Angebotslandschaft Früher Hilfen sowie Online-Hebammensuchen oder digitale Beratungsformate ausgebaut werden.
  • Stärkung familienbezogene Kooperation in Netzwerken
    Komplexe und zeitaufwendige Beratungs- und Betreuungssituationen für Familien sowie deren Weiterleitung in andere Leistungs- und Unterstützungssysteme müssten honoriert werden. Auch sollten verbindliche Verfahren zur familienbezogenen Zusammenarbeit festgelegt werden, zum Beispiel Vorgaben zur Information und Dokumentation von Vermittlungen, Vermittlungswegen und Zuständigkeiten
  • Sicherstellung der Mitarbeit freiberuflicher Hebammen in den Netzwerken Frühe Hilfen
    Damit Hebammen sich als Akteurinnen der Frühen Hilfen verstehen könnte, müssten sie konkret angesprochen werden, zu Fachtagung und Fortbildungen eingeladen und über Entwicklungen im Netzwerk Frühe Hilfen sowie über Beratungs- und Unterstützungsangebote von Anbietern informiert werden.
  • Handlungssicherheit an der Schnittstelle zum Kinderschutz
    Damit sich freiberufliche Hebammen trotz besonderer Herausforderungen und möglicher Unsicherheiten nicht aus der Betreuung von Familien in belastenden Lebenslagen zurückziehen, sei der Schnittstelle zum Kinderschutz besondere Aufmerksamkeit zu widmen: Notwendig seien insbesondere transparente Informationen, zum Beispiel über kommunale Verfahrenswege und Ansprechpersonen, die verstärkte Thematisierung von Kinderschutz und Frühen Hilfen in der Qualifizierung von Hebammen sowie die Förderung von Interdisziplinarität im Weiterbildungsbereich, angeregt zum Beispiel durch die Berufsverbände der Hebammen und Einbeziehung  der Fachexpertise der Kinder- und Jugendhilfe.
  • Ausbau von Modellen systematischer Vernetzung von Strukturen im Hebammenwesen mit Frühen Hilfen
    Durch die Einbindung von Hebammenzentralen in die Netzwerke Frühe Hilfen könnten diese den Informations- und Wissenstransfer zwischen Frühen Hilfen und der Berufsgruppe der freiberuflichen Hebammen sicherstellen und somit auch langfristig eine systematische Zusammenarbeit gewährleisten.
    Eine weitere Möglichkeit sah Martina Schlüter-Cruse in der Weiterentwicklung der bereits etablierte Qualitätszirkel von Hebammen zu "Interprofessionellen Qualitätszirkeln für Fachkräfte in der aufsuchenden Arbeit mit (werdenden) Eltern" auf kommunaler Ebene mit freiberuflichen Hebammen, Familienhebammen, Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegenden sowie weiteren aufsuchend tätigen Fachkräfte der Sozialpädagogik oder Familienpflege.

Zu welchem Ergebnis kommt das Eckpunktepapier?

Abschließend fasste die Expertin ihre Ausführungen in vier zentralen Punkten zusammen: So gebe das Eckpunktepapier Anregungen zur Verbesserung der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit zwischen freiberuflichen Hebammen mit den Institutionen und Akteuren des Sozialwesens.

Insbesondere zeige es, dass Nachjustierungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen erforderlich seien: der familienbezogenen Zusammenarbeit, der fallübergreifenden Kooperation, in den Strukturen der Frühen Hilfen, im Hebammenwesen sowie im Gesundheitswesen.

Mit Blick auf Praxiserfahrungen zur Zusammenarbeit von freiberuflichen Hebammen und Frühen Hilfen hielt sie fest: "Best-Practice-Modelle zeigen bereits eindrücklich, wie die Einbeziehung freiberuflicher Hebammen in die Netzwerke Frühe Hilfen gelingen können" und ergänzte: "Ein weiterer Schlüssel zur Umsetzung der Empfehlungen liegt natürlich in der hochschulischen Ausbildung und Qualifizierung von Hebammen", womit sie zu den beiden folgenden Impulsvorträgen überleitete.