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Frühe Hilfen für Familien in Armutslagen – Empfehlungen des NZFH-Beirats

Der Beirat des NZFH hat neun Empfehlungen zur ursächlichen Bekämpfung von Kinderarmut und zur Ausgestaltung der Frühen Hilfen im Zusammenhang mit Armutslagen ausgesprochen.

Die Empfehlungen seines Beirats hat das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in Band 8 der Publikationsreihe KOMPAKT – Beiträge des NZFH-Beirats veröffentlicht. Darin stellt dieser zunächst mögliche Auswirkungen von Armut im Kindesalter dar und geht darauf ein, wie die Folgen von Familienarmut im Sinne des Kindeswohls verhindert oder abgeschwächt werden können. Er betont, dass schützende Faktoren bei der Bewältigung der Folgen von Armut helfen können und hebt in dem Kontext Bedeutung und Möglichkeiten der Frühen Hilfen hervor.

Das Papier wurde von einer Arbeitsgruppe des NZFH-Beirats erstellt und am 21.11.2019 vom Beirat einstimmig beschlossen.

Empfehlungen auf fachpolitischer Ebene:

Armut von Kindern ist überwiegend strukturell verursacht und weniger Ausdruck individuellen Scheiterns. Die Bekämpfung von Kinderarmut stellt eine Querschnittsaufgabe aller relevanten Ressorts dar. Dazu gehört, zunächst die materielle Basis von Familien und Kindern zu stärken, d. h. eine tatsächliche Sicherstellung des sächlichen und soziokulturellen Existenzminimums für alle Familien zu gewährleisten. Maßgeblich sind dabei transparente Berechnungen und Grundlagen, die altersspezifische Bedarfe von Kindern erfassen und decken.

Auf der Bundes- wie auch Landesebene müssen die Ressorts mit ihren spezifischen Aufgaben und Zielsetzungen koordiniert zusammenarbeiten. Dabei geht es sowohl um das Know-how anderer Fachpolitiken als auch um eine effiziente Verzahnung unterschiedlicher Projektförderungen mit dem Ziel eine Gesamtstrategie zu verfolgen. So können Synergieeffekte der Frühen Hilfen zum Beispiel mit den Politikbereichen Bildung, Integration, Gesundheit, Familie, Soziales und Wohnen sowie Ausbildung und Beschäftigung genutzt werden.

Die Gesamtstrategie sollte die nachhaltige Verhinderung und den Abbau von Armutslagen in Familien zum Ziel haben, damit bei den Kindern keine generationale Verfestigung negativer Lebensläufe erfolgt. Diese Gesamtstrategie sollte auf ihre Wirkung hin regelmäßig evaluiert werden.

Die bürokratischen Hürden, um Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II oder Leistungen zur Bildung und Teilhabe zu erhalten, sind mitunter sehr hoch. Zudem verfehlen Unterstützungsleistungen ihre Zielsetzung, wenn sie nicht abgerufen werden, weil die Antragstellung überfordernd oder stigmatisierend wirkt.

Bürokratieabläufe müssen daher so niedrigschwellig gestaltet sein, dass sie für Antragstellerinnen und Antragssteller zu bewältigen und diskriminierungsfrei sind. Bildungsunterschiede dürfen sich gerade hier nicht nachteilig auswirken. Dies beinhaltet zum Beispiel die Möglichkeit einer globalen Antragstellung für mehrere Leistungen sowie eine generelle Reduzierung von Antragserfordernissen. Empfehlenswert ist auch der Ausbau kostenfreier Angebote für alle Kinder. Ebenso ist die wertschätzende und zielgruppenadäquate Ansprache von Familien maßgeblich.

Daher bedarf es einer rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit sowie einer proaktiven Beratungsleistung für Eltern seitens der Leistungsträger.

Die Pflege und Erziehung der Kinder liegt gemäß Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes vorrangig im Verantwortungsbereich der Eltern. Insbesondere in der frühen Kindheit erbringen Eltern hohe Leistungen in der Pflege, Betreuung, Bildung und Erziehung ihrer Kinder. Dies betrifft – nach wie vor – insbesondere Mütter (Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2016).

Eine gleichstellungsorientierte Neugestaltung von Erwerbs- und Sorgearbeit wie sie im Zweiten Gleichstellungsbericht vorgeschlagen wird, ist für eine nachhaltige Prävention von Armutslagen von Kindern grundlegend. Ziel ist dabei eine nachhaltige finanzielle Absicherung in der Lebensphase mit kleinen Kindern. Dabei ist maßgeblich, dass Familien- und Erwerbsleben miteinander vereinbar sind.

Eine Sensibilisierung und Akzeptanz für die Belange von berufstätigen Müttern und Vätern aufseiten der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sollte gezielt gefördert werden. Flexible, bedarfsgerechte Arbeitszeitmodelle und eine mögliche Gleichzeitigkeit von Vollzeitarbeit oder vollzeitnaher Teilzeitarbeit und den Aufgaben der Kinderbetreuung bzw. -erziehung sind weiter voranzubringen. Dazu zählt nach wie vor der quantitative und qualitative Ausbau der Kindertagesbetreuung.

Der Multidimensionalität von familiären Bedürfnissen und des Wohls des Kindes sind auch in der Gestaltung von Angeboten der Berufsberatung, Eingliederung und Vermittlung in den Arbeitsmarkt Rechnung zu tragen. Ziel sollte sein, dass beide Eltern sowohl Zeit für die Familie haben als auch im Rahmen ihrer Wünsche ihre berufliche Entwicklung verfolgen können. Eine auskömmliche bzw. armutsfeste Erwerbstätigkeit stellt eine wichtige Säule dar, damit psychosoziale Unterstützungsangebote wie die der Frühen Hilfen ihre volle Wirkung entfalten können.

Sozialräumliche Konzepte werden heute als eine Antwort auf die Regionalisierung von Armut in benachteiligenden Stadtquartieren gesehen. Ein wesentliches Merkmal einer Sozialraumorientierung in den Frühen Hilfen soll die bedarfsgerechte Verteilung der finanziellen Ressourcen sein. In städtischen oder ländlichen Gebieten mit einer sozioökonomischen Polarisierung muss dem mit einer entsprechend angepassten Ressourcenausstattung Rechnung getragen werden und Priorität haben.

Frühe Hilfen sind bereits innerhalb rechtlicher Rahmenbedingungen integriert und durch das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) auch gesetzlich verankert. Der seit 2018 auf Dauer angelegte Fonds (§ 3 Absatz 4 BKiSchG) zur Sicherstellung der Netzwerke Frühe Hilfen und der psychosozialen Unterstützung von Familien wird mittels der Bundesstiftung Frühe Hilfen umgesetzt.

Eine darüber hinausgehende Verankerung eines individuellen Rechtsanspruchs der (werdenden) Eltern oder Elternteile oder auch des Kindes selbst auf Frühe Hilfen im Gesetz würde das Ziel unterstützen, dass jedes Kind von einem annähernd gleichen Unterstützungsniveau der Frühen Hilfen profitieren könnte.

Empfehlungen zur Ausgestaltung der Frühen Hilfen im Kontext von Armut:

Bei den Betroffenen ist Armut häufig mit Scham und Ausgrenzung verbunden. Ein professioneller Umgang mit Armut erfordert daher von allen Akteuren Sensibilität, Fachwissen und soziale Kompetenzen, um differenz- und armutssensibel zu handeln. Kinder in Armutslagen werden in vielerlei Hinsicht benachteiligt und ausgeschlossen. Ihre Familien verfügen häufig nicht über die nötigen finanziellen Ressourcen, um eine gesunde Entwicklung ihrer Kinder zu fördern und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Frühe Hilfen können hier eine kompensatorische Rolle übernehmen. Fachkräfte und Angebote der Frühen Hilfen können dazu beitragen, Teilhabebarrieren abzumildern. Dafür ist ein breites Inklusionsverständnis notwendig. Eltern und Kinder brauchen Fachkräfte und Angebote, von denen sie in ihrer Besonderheit wahrgenommen und gestärkt werden. Sie brauchen vorurteilsbewusste Fachkräfte, die Einseitigkeiten und Diskriminierung erkennen, kompetent dagegen angehen und die Würde der Familien und Kinder wahren. Dies ist die Grundvoraussetzung, um Eltern dabei zu unterstützen, Kinder in ihrer Persönlichkeit und ihrem Handeln zu stärken.

Partizipation in der Begleitung von Familien trägt dazu bei, dass ein gestärktes Selbstbewusstsein und die Erfahrung eigener (Mit-) Gestaltungsmöglichkeiten Eltern und Kindern helfen, aktiv, verantwortungsvoll und sozial kompetent in unserer Gesellschaft zu agieren. Ihnen dazu einen guten Rahmen und Impulse zu geben, verlangt von den begleitenden Fachkräften Reflexion, Klarheit und Aufmerksamkeit. Ein guter Rahmen beinhaltet auch, Angebotsstrukturen für Eltern vorzuhalten oder auszubauen, die einen niedrigschwelligen Zugang und vielfältige Beziehungsarbeit ermöglichen, gerade die aufsuchenden Hilfen sind hierfür besonders geeignet.

Partizipation erfordert ein gegenseitiges Vertrauen sowie eine Haltung des gegenseitigen Respekts, die die Bedürfnisse der Eltern ernst nimmt. Es braucht bei Fachkräften die Überzeugung und das fachliche Wissen, dass sowohl Eltern als auch Kinder eigenständige Persönlichkeiten sind, die ein Recht auf Selbstbestimmung haben und auch brauchen. Eltern aus prekären sozialen Lagen leben aufgrund der Teilhabebeeinträchtigung in einem Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, sodass bei ihnen der Eindruck entstehen kann, dass ihre Anliegen kaum oder wenig Gehör finden. Das kann dazu führen, dass sie sich zurückziehen und Vertrauen, insbesondere in öffentliche Einrichtungen, verlieren.

Fachkräfte können durch eine dialogische Grundhaltung und die Orientierung an den Stärken von Eltern und Kindern dazu beitragen, die Selbstwirksamkeitserfahrung, insbesondere der Eltern, (wieder) zu erhöhen. Dafür braucht es Fachkräfte, die Eltern als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebenslage verstehen, ihren individuellen Bewältigungsstrategien mit Anerkennung und Wertschätzung begegnen und Partizipation fördern.

Gerade die Kommune ist der zentrale Lebensort von Familien, an dem die Folgen von (Kinder-) Armut sichtbar und deren Folgen bekämpft werden müssen. Zudem sind die Folgen von Armut auch mit hohen Folgekosten für die Kommunen verbunden. Die Kommunen haben sich daher auf den Weg gemacht, gelingendes Aufwachsen zu unterstützen. Die entsprechenden Strategien werden durch kommunale Präventionsketten bzw. kommunale Gesamtkonzepte beschrieben. Grundlage sind ganzheitliche und systemorientierte Handlungsansätze. Die kommunalen Konzepte für eine Kinderarmutsprävention sind durchweg darauf ausgerichtet, elterliche und kindliche Ressourcen zu fördern. Der Auf- und Ausbau von kommunalen Präventionsketten ist maßgeblich für frühzeitig ineinandergreifende präventive Unterstützungsangebote entlang des Aufwachsens.

Die Frühen Hilfen können dabei das erste Glied einer Präventionskette sein und gemeinsam mit weiteren Akteuren Strategien entwickeln, die Armutsfolgen für Kinder abmildern oder verhindern. Dabei sind der erfolgreiche Zugang zu Familien in prekären sozioökonomischen Situationen, die vertrauensvolle Kooperation mit ihnen und die Verfügbarkeit wirksamer Angebote wichtig für eine gute Unterstützung. Die bereits bestehenden Netzwerke Frühe Hilfen können entsprechend um Kooperationspartner aus den Bereichen der frühkindlichen Bildung, Ausbildungs- und Beschäftigungsförderung erweitert werden.