Jugendhilfe und Frühförderung müssen als systemrelevant gelten
Prof. Dr. Ute Thyen über Gemeinsamkeiten von Frühen Hilfen und Frühförderung und Auswirkungen von Corona. Ausschnitte des Gesprächs mit der Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. sind im Dezember 2020 im Infodienst FRÜHE HILFEN aktuell erschienen.
Wie funktioniert Frühförderung?
Prof. Dr. med. Ute Thyen: Frühförderung ist zunächst einmal etwas, worauf Eltern einen Anspruch haben. Sie ist eine Leistung der sogenannten Eingliederungshilfe. Wenn Kinder eine Behinderung haben oder von einer bedroht sind, Kinder, von denen man meint, dass ihre Teilhabe und normale Entwicklung beeinträchtigt sein könnten, können die Eltern pädagogische oder medizinisch-therapeutische,interdisziplinäre Hilfe für ihr Kind beantragen. Die wird dann von der Kommune bewilligt.
Wir sind also bei der Frühförderung im Bereich der Eingliederungshilfe, nicht im Bereich des Gesundheitswesens im eigentlichen Sinne. Das sehen Sie auch daran, dass die Frühförderung über das Sozialgesetzbuch IX, das Bundesteilhabegesetz geregelt ist, während wir im Bereich des Gesundheitswesensim Sozialgesetzbuch V unterwegs sind, wo gesundheitliche Versorgung und Leistungen der gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen geregelt sind.Aber natürlich gibt es Überschneidungen. Es braucht im Falle einer Beeinträchtigung oder Behinderung Ärztinnen und Ärzte, die das feststellen. Das sind überwiegend Kinder und Jugendärzte, Ärzte, die im öffentlichen Gesundheitsdienst arbeiten, die die Eltern beraten und ihnen raten, einen bestimmten Antrag zu stellen, aber die Eltern müssen das für ihr Kind wollen.
Und was sind ihre Ziele?
T: Die ersten 1000 Tage zählen. Wenn man da von außen einen Input gibt, das wirkt sich sehr viel besser aus, als wenn ein Kind älter ist und eine Behinderung schon feststeht, da kann man oft präventiv sehr viel weniger machen. Die Frühförderung hat mehrere Ziele: Sie soll das Kind in der Entwicklung fördern. Man weiß insbesondere bei jüngeren Kindern, dass das nur über die Anleitung, Beratung und Förderung der ganzen Familien funktioniert. Ein einfaches Beispiel: Wenn ein Säugling eine angeborene Hörstörung hat, wird er sehr viel später anfangen zu lautieren und schnell wieder damit aufhören, weil er kein Feedback hört. Die Eltern werden auch darauf reagieren, dass das Kind nicht auf normale Ansprache mit Lauten antwortet und sie werden genau das dann auch weniger tun. Über diesen Zusammenhang würde die Frühförderung, in der es für sinnesbehinderte Kinder noch einmal besondere Bereiche gibt, die Eltern aufklären und vermitteln, wie die Förderung eines hörgestörten Kindes gelingt. Oder:Wie bringe ich ein Kind in Mobilität, das nicht so gut laufen lernt?Wie spreche ich ein Kind an, das deutlich in der geistigen Entwicklung zurück ist und nicht sehr motiviert ist, die Welt zu erkunden? Es geht darum, das Interesse an der Umwelt zu wecken, wodurch das Kind dann wieder lernt. So kann ich die Verschlechterung der geistigen Entwicklung abwenden.
Dabei ist die Frühförderung einerseits präventiv, will verhindern, dass etwas gar nicht eintritt oder will, dass Risiken abgewendet werden. Sie setzt sich aber im Wesentlichen dafür ein, dass bei früh eintretenden Erkrankungen keine Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird oder andere Funktionen beeinträchtigt werden.
Übergeordnetes Ziel ist eine maximale Teilhabe an Gesellschaft. Teilhabe ist, relativ schlicht formuliert, das Eingebundensein in Lebenssituationen. Das soll optimiert werden. Aus diesem Ziel leitet sich die Zielgruppe ab, weil das Kind vorwiegend im familiären Kontext lebt und Peer Settings erst langsam dazukommen.Zielgruppe der Frühförderung sind Kinder bis zu sechs Jahren. In den ersten drei Jahren ist das Kind vorwiegend in der Familie, deshalb muss heilpädagogische oder interdisziplinäre Förderung vorwiegend innerhalb der Familien stattfinden. Wenn das Kind dann in einer Kita ist, geht die Förderung dann oft dahin über, findet aber immer noch im Kontext der Frühförderung statt. Die Elternarbeit muss aber natürlich fortgesetzt werden.Eltern gehören also immer auch zur Zielgruppe. Mit der Schulpflicht endet die Frühförderung.
Was verbindet Frühförderung mit Frühen Hilfen?
T: Auf jeden Fall die Zielgruppe. Frühförderung geht von null bis sechs Jahre. Frühe Hilfen fangen früher an, die Zeit der Schwangerschaft kommt ja hinzu, und sie enden mit drei Jahren. Die große Überschneidung ist die Altersgruppe bis zu drei Jahren.Und die Idee dahinter ist bei beiden Ansätzen gleich, nämlich das größte Entwicklungspotenzial in der frühen Phase der Kindheit voll auszunutzen. Und vor allem die Eltern müssen zu 90 Prozentbewerkstelligen, das Entwicklungspotenzial ihres Kindes zu fördern. Hierfür erhalten sie Unterstützung. Das ist bei der Frühförderung genauso wie bei den Frühen Hilfen. Die Schwerpunkte der Arbeit sind etwas unterschiedlich, weil die Frühförderung auf drohende körperliche und geistige Behinderung abstellt. Bei den Frühen Hilfen liegt der Fokus eher auf sozialen Risikofaktoren. Die wären kein Eintrittsticket für Frühförderung. Das wird immer wieder kritisiert, weil man das schlecht auseinanderhalten kann, aber so sind die Bestimmungen. Allerdings: Wenn die medizinischen Risiken gering sind, wiegen die sozialen umso schwerer.
Ursprünglich war Frühförderung sogar gedacht alsfrühe Förderung von Kindern aus hoch belasteten Familien. Damals in den 1970er-Jahren konnten sich die Kultusminister aber nicht einigen und haben das in die Behindertenhilfe verlagert, die heute Eingliederungshilfe heißt.
Wir haben heute oft Probleme, sehr junge Kinder in die Frühförderung aufzunehmen, weil viele Plätze durch 3- bis 6-Jährige belegt sind, die z.B. durch ADHS in der Kita auffallen und über Tische und Bänke gehen. Das sind sehr häufig Kinder, bei denen der Ursprung im Sozialen liegt.
Die ganze Logik, ob eine Behinderung besteht oder nicht, müssen wir überdenken, weil Kinder auch vorübergehende schwierige Entwicklungsphasen haben. Kinder können wieder aufholen, Familien erholen sich, also wir brauche da ein dynamisches Konzept. Da müssen die Kompetenzen der Frühförderung, die ja im therapeutisch-medizinischen und heilpädagogischen Bereich liegen, und die Kompetenzen Früher Hilfen im Bereich der Gesundheitsförderung ineinander verschränkt werden. Wobei man sich ganz genau ansehen muss, was diese Familie braucht, um ihr Kind adäquat zu fördern. Hier passgerechte Hilfen anzubieten, muss vor Ort in den Kommunen sichergestellt werden. In beiden Systemen wird multiprofessionell gearbeitet. Gemeinsam kommt da auf jeden Fall mehr heraus, als wenn die Systeme einzeln arbeiten.
Frühe Hilfen und Frühförderung haben viele Parallelen, gibt es Doppelstrukturen?
T: Ich fände es schön, wenn die Hilfen bei Entwicklungsstörungen, sozialen Problemen in Familien etc. aus einer Hand kämen. Und in vielen Ländern ist das auch so, da heißt das Early Intervention Services. Die unterscheiden dann nicht nach Behinderungsarten, das ist eine spezifisch deutsche Entwicklung. Das müssen wir in den nächsten 10 bis 20 Jahren auch aufgeben. Der Vorteil hier ist, dass das auf kommunaler Ebene stattfindet. Und ich erwarte von den Fachkräften dort, dass sie das regeln, denn Doppelstrukturen schaden ja den Familien. Viele Familien haben ja nicht nur Frühförderung und Frühe Hilfen, vielleicht kommt eine Physiotherapeutin dazu, die Mutter ist möglicherweise in einer Psychotherapie, dann gibt es noch Opa und Oma. Die Familien geben mir dann die Rückmeldung, dass sie diese Hilfen zwar alle brauchen, aber zu viele Personen dort ein und ausgehen. Und von einer Familienhebamme können auch andere Ratschläge gegeben werden als von einer Fachkraft der Frühförderung. Hier erwarte ich Absprachen, dass z.B. die Frühförderung, die gerade ganz dick in einer Familie drin ist, Aufgaben der Frühen Hilfen mit übernimmt und man das im Netzwerk oder einem Fachkräftedialog abstimmt.
Wo können Frühe Hilfen und Frühförderung gut kooperieren? Wo ergänzen sie sich?
T: Beide haben einen sehr ressourcenstärkenden Ansatz und keine hoheitlichen Aufgaben im Sinne des Wächteramts. Die Fachkräfte sind aber beiderseits so ausgebildet, dass sie die Schnittstellen erkennen und wissen, wann sie mit dem Jugendamt zusammenarbeiten müssen. Aber sie haben viel Spielraum und können mit den Familien auf Augenhöhe kommunizieren und müssen die natürlich auch mitnehmen und überzeugen, wenn weiterführende Hilfen benötigt werden. Und beide Systeme müssen die Entscheidungen der Eltern akzeptieren. Beide funktionieren nicht in einem Kontrollsystem. Die Jugendämter arbeiten mit Unterstützung und Kontrolle, dafür haben sie aber eine ganz eigne Expertise.
Beide Systeme sind partizipativ angelegt, sie arbeiten sehr intensiv mit den Familien zusammen und die Eltern behalten die Federführung im Hilfeprozess. Beide Systeme haben einen unterstützenden, keinen kontrollierenden Ansatz.
Wir haben unterschiedliche Professionen in beiden Bereichen, und da ist es sehr wichtig im kommunalen Netzwerk zu erkennen: Die Perspektive der Familienhebamme ist eine andere als die des Pflegedienstes oder der Sozialpädagogin. Das ist sehr wertvoll, die Brillen zu tauschen und zu sehen, wie sieht das aus der Sicht der anderen Profession aus. Und man kann sich ja auch gegenseitig weiterbilden.Es gibt so viele neue Erkenntnisse im Bereich der Frühen Kindheit und Bildung. Interdisziplinäre Weiterbildung hat da einen sehr hohen Stellenwert. Wenn man aus einem Bereich jemanden einlädt, zur Eltern-Kind-Interaktion etwas vorzutragen, ist das für die anderen Berufsgruppen wichtig. Da kann man sich gut treffen und effektiv vorankommen. Ich empfehle, dass man zielgerichtet kooperiert. Das kann heißen, man arbeitet fallbezogen und trifft sich mit einer Familie, oder man trifft sich fallübergreifend und bereitet z.B. eine Supervision vor und redet über Probleme, die wir vielleicht miteinander haben, damit beispielsweise vorgefasste Meinungen über die andere Profession reflektiert werden. Oder man sucht sich ein gemeinsames Fortbildungsthema, denn die Zeit ist oft knapp und man sollte die eineinhalb Stunden, die man im Netzwerk verbringt nutzen. Schön ist, wenn man dort rausgeht und sagt „Ich habe etwas gelernt, ich habe profitiert für meine Praxis“. Das müssen nicht immer hochkarätige Expertinnen und Experten sein. Aber es gibt Leute, die haben eine besondere Erfahrung gemacht: Eine Heilpädagogin kann einmal genau erklären, wie sie eine Fütterstörung bei einem Säugling überwunden hat, dann hängen womöglich alle an ihren Lippen.
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf Familien in der Frühförderung aus?
T: Wenn ich hier im Krankenhaus mit Familien in Kontakt war, haben sie mirbis im Mai, Juni gesagt: „Das ist alles ausgesetzt“. Es gab vereinzelt Telefonate, aber in Bezug auf Frühförderung und auf Frühe Hilfen halte ich das für wenig effektiv. Wir haben bei beiden Systemen immer die Komponenten sozial-emotionale Unterstützung, Wissensvermittlung und drittens tatkräftiges Miteinanderhandeln. Im gemeinsamen Tun kommt man weiter. Das ist eine immens wichtige Komponente, man braucht den persönlichen Kontakt.
Zum Teil fehlte ja einfach das Schutzmaterial, so dass in der Frühförderung die Angst bestand, schwer behindert oder kranke Kinde in der Familie anzustecken. Wir haben unsere Leute hier vom Krankenhaus losgeschickt mit Kittel, Maske, teils auch Visier, denn nach den Familien, den bedürftigen Babys zu schauen, war in der Pandemie so wichtig wie nie. Und man kann sich ja vor Ansteckung schützen, das wissen wir doch. Selbst wenn dort jemand Corona hat, ich kann dorthin gehen und mich entsprechend schützen. Wir arbeiten in helfenden Berufen. Mit Schulungen, mit entsprechendem Wissen und Schutzausrüstung müssen wir unseren Auftrag erfüllen, und das hat alles viel zu lange gedauert, bis Schutzkonzepte entwickelt und die Leute ausgestattet waren. Gerade Leute auf dem Land mit behinderten Kindern und schlechter Anbindung sind auf Besuche der Frühförderung angewiesen. In meinen beruflichen Zusammenhängen habe ich erlebt, dass das ganze Pandemie-Management auf die gesellschaftliche Mitte ausgerichtet war. Kinder wurden als Träger und ältereMenschen als Opfer des Virus adressiert, ohne die ebenfalls schützenswerten Rechte von Kindern auf Förderung, Bildung und Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu berücksichtigen.Schulen, Kitas, Krabbelstuben wurden geschlossen. Die vulnerablen Gruppen wurdenja noch nicht mal gefragt. Und die ganze Jugendhilfe hätte als systemrelevant gelten müssen, nicht nur die Leute in den Krankenhäusern. Denn es ist ja völlig klar: Wenn ich vulnerable Familien von jeder Versorgung abschneide, dann wird deren Vulnerabilität zunehmen. Der Hilfebedarf bleibt ja bestehen!
Welche Maßnahmen sollten ergriffen werden, um die Auswirkungen auf die Familien abzumildern?
T: Für mich ist eine zentrale Forderung, dass die Jugendhilfe und Frühförderung als systemrelevant gelten müssen. Die Maßnahmen bestehen darin, dass die Versorgung aufrechterhalten wird. Wenn 10.000 Intensivbetten bereitgestellt werden können, dann können auch 10.000 Fachkräfte der Frühförderung mit Masken ausgestattet und geschult werden.
Was brauchen die Kinder und die Familien in Zeiten der Pandemie?
T: Mehr Anerkennung ihrer Leistungen und frühzeitige Berücksichtigung. Es kann sein, dass ihnen viel zugemutet werden muss, aber viele Familien, viele Mütter hätten sich sicher gefreut, wenn sie in den Fernsehansprachen der Politikerinnen und Politiker auch mal erwähnt worden wären. Wir wissen jetzt, dass Familien wenig zum Pandemie-Geschehen beitragen, aus meiner Sicht bringen sie aber die größten Opfer.