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Sensible Entwicklungsfenster in den ersten Lebensjahren: Beispiele, Erklärungen, Implikationen

Vortrag von Prof. Dr. Sabina Pauen, Universität Heidelberg

Kinder werden mit einem unreifen Gehirn geboren. Auch wenn die Anzahl der Neurone, mit denen jeder Mensch ausgestattet ist, dann bereits feststeht, wird sich das Gehirnvolumen bis zum Schuleintritt verdreifachen, weil vorhandene Nervenzellen noch reifen und sich vernetzen müssen. Ein Vorteil dieser postnatalen Entwicklung besteht darin, dass die endgültige Verschaltung von Neuronen erst erfolgt, wenn bereits feststeht, in welche Umwelt das Kind hineingeboren worden ist. So kann die Feinstruktur des Gehirns besser an die gegebenen Lebensumstände angepasst werden. Ein wichtiger Indikator für neuronale Vernetzung ist die Anzahl der Endknöpfchen (Synapsen), die Botenstoffe übertragen. Jeder dauerhafte Lernprozess geht mit der Bildung neuer Synapsen einher. Werden Verbindungsstellen irgendwann nicht mehr benötigt, können sie wieder abgebaut werden. Bei der Betrachtung entsprechender Veränderungen im Gehirn fällt eine interessante Besonderheit des Menschen auf: Die Anzahl an Synapsen steigt in fast allen Bereichen postnatal massiv an, erreicht irgendwann im Verlauf der Kindheit ihren Höhepunkt, sinkt dann wieder für eine gewisse Zeit, um schließlich auf einem niedrigeren Niveau weitgehend stabil zu bleiben. Im visuellen Cortex etwa erreicht die Synapsendichte bis zum Ende des ersten Lebensjahres ihren Höhepunkt und sinkt dann innerhalb von neun Jahren wieder um fast die Hälfte ab. Bei anderen Säugetieren (Makaken, Ratten) kann man ebenfalls einen Anstieg der Synapsen verzeichnen, aber kaum ein Absinken. Diese Auffälligkeit beim Menschen wird auf das Prinzip "use it or lose it" zurückgeführt: Die genetisch vorprogrammierte Bildung eines Synapsenüberschusses versetzt den Menschen in die Lage, jene Verbindungsstellen auszusuchen, die besonders häufig aktiviert (gebraucht) werden.

Weichen stellende Wirkung früher Erfahrungen

Wir sprechen von "sensiblen Zeitfenstern" der Entwicklung immer dann, wenn unser Gehirn sich reifungsbedingt so verändert, dass Lernprozesse prägende (besonders nachhaltige) Wirkung haben, wie dies in Phasen der massiven Veränderung der Synapsendichte in bestimmten Hirnarealen des Menschen der Fall ist. Akzeptiert man die Existenz entsprechender Zeitfenster, so stellt sich die Anschlussfrage, in welchen Bereichen Belege für die Weichen stellende Wirkung früher Erfahrungen vorliegen. Hier wäre an erster Stelle die Sensorik zu nennen: Inzwischen ist bekannt, dass Einschränkungen der Sehkraft (z. B. durch grauen Star) oder eine fehlende Koordination beider Augen (bei Schielen), die während der ersten Lebensmonate über mehrere Wochen unbehandelt bleiben, zu dauerhaften Problemen der räumlichen Wahrnehmung führen. Doch auch höhere Prozesse der visuellen Verarbeitung können betroffen sein. Erst kürzlich wurde nachgewiesen, dass Säuglinge bis etwa zum neunten Lebensmonat in der Lage sind, individuelle Menschen- und Affengesichter voneinander zu unterscheiden, während dies älteren Kindern und Erwachsenen nur gelingt, wenn es sich um Gesichter der eigenen Art handelt. Ebenso führen Hörprobleme in den ersten Lebensjahren zu dauerhaften Einschränkungen der Sprachwahrnehmung, wenn sie nicht rechtzeitig entdeckt und behandelt werden. Säuglinge sind zunächst hochsensibel für die Differenzierung unterschiedlichster Sprachlaute, verlieren diese Sensibilität aber bereits gegen Ende des ersten Lebensjahres wieder; sie beschränkt sich dann nur noch auf häufig gehörte Sprachlaute. In vielen Bereichen menschlichen Lernens ist das Zeitfenster der zugehörigen sensiblen Phasen zeitlich deutlich weiter gefasst und die prägende Wirkung früher Erfahrungen weniger drastisch als im Bereich der Sensorik. Dies gilt auch für die Motorik. Hier zeigen Verhaltensbeobachtungen, dass komplexe Bewegungsabläufe, die Balance und Körperkoordination erfordern, wie etwa Fahrradfahren, besonders leicht bis ins Schulalter gelernt werden. Auch wenn sich frühe Erfahrungsdefizite später durchaus noch kompensieren lassen, ist der Trainingsaufwand nun wesentlich höher. Man könnte sagen: "Was Hänschen schnell lernt, übt Hans immer mehr".

Entwicklung der Bindungsfähigkeit

Ausgehend von den Beobachtungen des Verhaltensbiologen Konrad Lorenz und Überlegungen des Bindungstheoretikers und Analytikers John Bowlby wurde bereits Mitte des 20. Jahrhunderts postuliert, dass die frühe Kindheit vor allem für die Entwicklung der Bindungsfähigkeit des Menschen eine sensible Phase darstellt, welche ihrerseits weitreichende Auswirkungen auf das spätere Sozialverhalten hat. Obwohl wir inzwischen wissen, dass eine Prägung wie bei den Lorenz‘schen Entenkindern wohl kaum bei "frisch geschlüpften" Menschenkindern stattfindet, gehen wir davon aus, dass frühe Interaktionserfahrungen nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung nehmen. Der Schweizer Arzt René Spitz hatte 1967 beobachtet, dass Waisenkinder, die physisch ausreichend versorgt wurden, aber keine liebevolle Zuwendung erfuhren, schlecht gediehen und ein erhöhtes Sterberisiko zeigten. Dieses als Hospitalismussyndrom bekannt gewordene Störungsbild wird durch moderne Forschungsbefunde eindrucksvoll bestätigt. So belegt eine aktuelle Längsschnittstudie, dass sich rumänische Waisenkinder nur dann normal entwickelten, wenn sie vor dem sechsten Lebensmonat adoptiert wurden, wobei die Adoption nicht mit einer Verbesserung der materiellen Verhältnisse oder anderer Privilegien einherging, sondern lediglich mit vermehrter sozialer Zuwendung. Die Gehirne der adoptierten Kinder zeigten ein besseres Größenwachstum und mehr Stoffwechsel als die Gehirne vergleichbarer Kinder, die im Heim geblieben waren. Auch bezüglich kognitiver und sozialemotionaler Fähigkeiten ergaben sich markante Gruppenunterschiede. Es besteht folglich kaum ein Zweifel daran, dass die frühe Kindheit in diesem Fall tatsächlich wichtige Weichen stellt, auch wenn wir die hirnmorphologischen Korrelate unterschiedlicher Bindungserfahrungen noch nicht im Einzelnen identifizieren können.

Sensible Zeitfenster effizient nutzen

Alle bislang geschilderten Befunde scheinen folgende Schlussfolgerung nahezulegen: Je mehr Anregung (visuell, kognitiv, motorisch, sozial, emotional) ein Kind in seinen ersten Lebensjahren erhält, desto besser sind seine sensiblen Zeitfenster genutzt und desto positiver wird es sich entwickeln. Hier gilt es allerdings zu bedenken, dass nicht nur "use it", sondern auch "lose it" ein wichtiges Prinzip von Anpassungsleistungen ist. Immer mehr ist nicht immer besser, sondern wir müssen uns vielmehr fragen, welche Qualität und welchen Umfang Anregung haben sollte, in welchem Alter der Kinder sie am effizientesten wirksam ist und welche Form von Entwicklung wir damit genau fördern möchten. Zudem dürfen wir nie vergessen, dass die gezielte und intensive Förderung bestimmter Fähigkeiten fast immer mit einer Vernachlässigung von Fähigkeiten auf einer anderen Ebene einhergeht. Gerade weil bekannt ist, dass die frühe Kindheit Weichen stellt, brauchen wir zur Beantwortung der Frage nach Implikationen für die Praxis zunächst noch mehr gut fundierte entwicklungspsychologische Grundlagenforschung.

Literatur:

Höhl, S. & Pauen, S. (2014). Neue Erkenntnisse der Gehirnforschung und ihre Bedeutung für frühes Lernen. In: Braches-Chyrek, R., Hopf, M., Röhner, Ch., & Sünker, H. (Hrsg.). Handbuch Frühe Kindheit (121–132).

Pauen, S. (2012). Early childhood experience and later development (Edited volume). Cambridge University Press: Cambridge, UK.

Pauen, S. (2011). Vom Säugling zum Kleinkind. Entwicklungstagebuch zur Begleitung in den frühen Jahren. Spektrum/Springer Verlag.

Pauen, S. (2004). Zeitfenster der Gehirn- und Geistesentwicklung: Modethema oder Klassiker? In: Zeitschrift für Pädagogik, 4, 521-530. urn:nbn:de:0111-opus-48257.