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Podiumsdiskussion: Ansichten - Anknüpfungen - Annährungen. Im Gespräch mit Systembeteiligten

Am Ende des ersten Tages diskutierten Akteurinnen und Akteure aus der Fachpraxis wichtige Aspekte der Frühen Hilfen und Frühförderung:

Direkter Kontakt zwischen Kooperationspartnern

Lieselotte Simon-Stolz (Kinder- und jugendärztlicher Dienst, Neunkirchen) schätzte ihre Kooperationen im Bereich der Frühen Hilfen vor Ort als sehr gut ein. Viele Vorurteile unter den Kooperationspartnerinnen und -partner haben sich nicht bestätigt; allerdings seien Kinderärztinnen und -ärtze am schwierigsten für Kooperationen zu gewinnen. Sie plädierte für einen direkten Kontakt zwischen den unterschiedlichen Kooperationspartnerinnen und -partner und eine Vorstellung betroffener Kinder in den Frühförderstellen vor dem 4. oder 5. Lebensjahr, um Entwicklungsverzögerungen rechtzeitig erkennen und behandeln zu können.

Gegenseitige Wertschätzung

Rainer Hilbert (Familienberatungszentrum Kassel, Frühförderstelle und Erziehungsberatung) machte deutlich, dass bei interprofessioneller Zusammenarbeit gegenseitige Wertschätzung einen hohen Stellenwert hat. Die Wertschätzung gehe für ihn damit einher, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Kooperationspartnerinnen und -partner bzw. deren Arbeitsfelder zu verdeutlichen. Früher haben regelmäßige fallübergreifende Kooperationen stattgefunden, um Übergänge zu gestalten. Gegenwärtig sei dies aus zeitlichen Gründen kaum mehr möglich. In der Frühförderung lasse die Einzelfallabrechnung kaum Spielraum für Kooperationsgespräche zu, da sie nicht abgerechnet werden können. Rainer Hilbert sprach sich dafür aus, dass sich die Frühförderung stärker in die aktuellen Debatten um Frühe Hilfen einmischen und ihre Kompetenzen einbringen sollte, beispielsweise in der Diagnostik, der Gestaltung niedrigschwelliger Angebote und als Spezialistin für frühe Kindheit.

Kommunales Engagement

Korinna Bächer (Kinderschutzzentren Köln) sprach die finanzielle Situation des Kinderschutzzentrums an. Die Finanzierung des Kinderschutzzentrums bestehe zu 40 Prozent aus städtischen Mitteln, den Rest akquiriere das Kinderschutzzentrum selbst. Die vergangenen, öffentlich bekannt gewordenen Fälle von Kindeswohlgefährdung bzw. Kindstötung haben nicht dazu geführt, dass sich die Kommunen stärker engagieren. Frühförderung sei früher als Frühe Hilfe bekannt gewesen, etwa im Bereich der Angebote für Eltern mit Schreikindern und entwicklungsbeeinträchtigten Kindern. Auch heute sollte die Frühförderung früher ins Spiel kommen und Familien rechtzeitig angeboten werden.

Familienhebammen und Netzwerke

Angela Nietung (Deutscher Hebammenverband e.V.) berichtete über ihre Tätigkeit als Familienhebamme in Garmisch-Patenkirchen. Dort habe es zunächst keine Vernetzung mit anderen Professionen gegeben. Sie sah sich konfrontiert mit "Multiproblemfamilien", die sie dazu bewogen interprofessionelle Zusammenarbeit selbst zu initiieren. Sie verwies Familien etwa auf offene Angebote in der Frühförderstelle. Inzwischen etablierte sich eine gute Zusammenarbeit mit der Frühförderstelle. Die Familien erhalten  eine Familienhebammen, wenn eines oder mehrere Kriterien vorliegen: eingeschränktes Vorsorgeverhalten, kranke oder behinderte Eltern, Schwierigkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung, Überforderung der Eltern, Frühgeburt oder andere Situationen, die eine erhöhte Feinfühligkeit der Eltern notwendig machen. Angela Nieting schilderte einen Fallverlauf, der die koordinierende Funktion der Familienhebamme verdeutlichte, da beispielsweise alle Rückmeldungen anderer Fachkräfte über die Familie an die Familienhebamme weitergegeben werden. Sie regte zu gemeinsamen Fortbildungen mit der Frühförderung an und verwies darauf, dass für Familienhebammen fallbezogene Rückmeldungen in der fallbezogenen Kooperation wichtig sind und spricht sich – unter Berücksichtigung des Datenschutzes – für fallbezogene Gesprächsrunden aus.

Stellenwert der Frühförderung

Ullrich Böttinger (Frühe Hilfen im Ortenaukreis) hob hervor, dass die Bedeutung der Frühförderung im Bereich der Frühen Hilfen unterschätzt werde. Im Ortenaukreis seien Frühe Hilfen Teil des Regelsystems und entsprechende finanzielle Mittel stehen zur Verfügung. Seit September 2009 gibt es eine sehr hohe Inanspruchnahme der Frühen Hilfen. Ulrich Böttinger führte diesen Erfolg auf die Jugendhilfeplanung und der Verankerung der Frühen Hilfen in einem politischen Beschluss zurück. Inhaltlich sind die Frühen Hilfen im Ortenaukreis als Präventionsangebote konzipiert und aufgrund der Größe des Landkreises dezentral organisiert. Familien können dort Frühe Hilfen unterhalb der Schwelle des Jugendamts erhalten. Ullrich Böttinger betonte, dass Frühe Hilfen nicht mit den Interventionsmaßnahmen des Jugendamts gleichzusetzen sind. Dies erschien ihm besonders wichtig, da die Familien meist Vorerfahrungen mit dem Jugendamt haben, die sich eher ungünstig auf die Hilfe auswirken können.

In der konkreten Arbeit werde mit Entbindungskliniken kooperiert und eines eigens entwickeltes Screeningverfahrens eingesetzt, um den Bedarf der Familien zu ermitteln. Schwerpunkt der Frühen Hilfen sei die Vermittlung in geeignete, niedrigschwellige Angebote, die außerhalb der Hilfen zur Erziehung liegen. An Hilfen werde den Familien all das angeboten, was passend erscheint. Mögliche Hilfen sind: Familienhebammen, frühe Familienhilfe (ähnlich wie Sozialpädagogische Familienhilfe, aber keine Hilfen zur Erziehung oder Familienhebamme) sowie entwicklungspsychologische oder videogestützte Beratung und das STEEP-Programm. Aktuell bestünden Überlegungen, ob Familien nicht auch Kinderbetreuung bezahlt werden sollte, da Eltern häufig Termine nicht wahrnehmen oder sie durch Kinderbetreuung angemessener entlastet werden können. Grundsätzlich regte er an, im konkreten Fall zunächst alle möglichen Hilfen in Erwägung zu ziehen, und sprach sich – unter Voraussetzung der Schweigepflicht – für fallbezogene Kooperation aus. Die Fragen und Themen für eine gemeinsame Kooperation seien offensichtlich und sollten nicht von gegenseitiger Konkurrenz geleitet sein, sondern von einem ökonomischen Einsatz finanzieller Mittel.

Fallbezogene Kooperationen

Die Podiumsteilnehmenden diskutierten des Weiteren über Formen der fallbezogenen Kooperation. In einzelfallbezogener Kooperation sei eine klare Unterscheidung zwischen Entwicklungsgefährdung und Kindeswohlgefährdung notwendig und Kooperationsvereinbarungen mit der Festlegung von Verantwortlichkeiten wichtig. Zudem hänge die fallbezogene Kooperation davon ab, welche Kooperationspartner der Familie am schnellsten eine Hilfe anbieten können.

Familien mit Migrationshintergrund

Ein weiterer Diskussionspunkt war Familien mit Migrationshintergrund: Durch die Zunahme der Familien mit Migrationshintergrund in der Beratungsarbeit veränderten sich Beratungsansätze und werde beispielsweise stärker auf halboffene Angebote gesetzt, die dem kulturellen Verständnis der Familien entgegen kommen. Ebenso wichtig seien Angebote in verständlicher Sprache. Der Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern wurde von den Podiumsteilnehmenden eher kritisch kommentiert, da diese von Familien oftmals abgelehnt werden. Sie setzen eher auf Fachkräfte mit Migrationshintergrund bzw. entsprechenden Sprachkenntnissen. Neben den rein sprachlichen Kompetenzen sei Interesse an der Kultur und Verständnisfragen bedeutsam. Denn es gehe mehr um ein Verständnis, denn um ein rein sprachliches Verstehen, dazu reiche eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher oftmals nicht aus. Bezüglich der Sprachförderung der Kinder falle auf, dass der Förderbedarf vieler Kinder erst bei der Schuluntersuchung diagnostiziert wird. Wichtig ist hier die Kooperation mit Kindergärten und Schulen. Die Erreichbarkeit von Familien mit Migrationshintergrund ist aus Sicht der Diskutantinnen und Diskutanten insgesamt noch ausbaufähig. Wesentliche Voraussetzung für die Einbeziehung von Eltern mit Migrationshintergrund sei die Stadtteilorientierung, die Erläuterung der Hilfesysteme und eine unbürokratische Abwicklung der Hilfen.

Zusammenfassendes Plädoyer

Martina Ertel fasste die Podiumsdiskussion mit dem Plädoyer zusammen, dass Frühförderung im Kleinkindalter starten und Fälle bei einem Zuständigkeitswechsel nicht komplett abgegeben, sondern miteinander kooperiert werden sollte.