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Zentral planen, regional handeln

Ein Gespräch mit Ullrich Böttinger,  Psychologischer Psychotherapeut, Leiter des Amts für Soziale und Psychologische Dienste beim Landratsamt Ortenaukreis in Offenburg und der Frühen Hilfen im Ortenaukreis, Baden-Württemberg. Eine gekürzte Fassung des Gesprächs ist im Infodienst des NZFH nachzulesen, erschienen im Juni 2015.

Herr Böttinger, welche besonderen Herausforderungen stellen sich Ihnen in einem Flächenlandkreis?

Fachlicher und politischer Anspruch des Ortenaukreises ist es, dass alle Bürgerinnen und Bürger im gesamten Landkreis in gleicher Weise Zugang zu Versorgungsangeboten haben sollen. So war es auch für die Frühen Hilfen von Anfang an eine besondere Herausforderung, diesem Anspruch gerecht zu werden, gerade wenn es um Familien mit Säuglingen und Kleinkindern geht, bei denen die Mobilität oftmals besonders eingeschränkt ist. 

Der Ortenaukreis ist der flächengrößte Landkreis in Baden-Württemberg. Er umfasst nahezu die Fläche des Saarlandes und verteilt sich auf 51 Städte und Gemeinden, davon fünf große Kreisstädte mit insgesamt knapp 420.000 Einwohnern. Die Entfernungen und Fahrzeiten innerhalb des Landkreises sind groß, hinzu kommen abgelegene Ortsteile und Seitentäler. 

Wir haben uns deshalb von vornherein für eine dezentrale Versorgungsstruktur in den fünf Raumschaften des Ortenaukreises entschieden, in denen auch bereits die Jugendhilfe ihre Angebotsstruktur vorhält. Das sind die Raumschaften Achern, Kehl, Lahr, Haslach/Kinzigtal und Offenburg. Der Anspruch auf gleichen Zugang zur Versorgung gilt insbesondere auch für zugehende Hilfen wie Familienhebammen. Wir mussten also Bedingungen schaffen, die es auch Familienhebammen ermöglichen, genauso in einem Seitental eine Familie zu unterstützen wie zentral in Offenburg.  

Wie sind die Netzwerkstrukturen Früher Hilfen in Ihrer Region aufgebaut?

Der Ortenaukreis hat bereits sehr früh, weit vor Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes, ein Konzept Frühe Hilfen entwickelt. Nach einer Bestandsaufnahme in den Jahren 2006 und 2007 fand ein gemeinsamer Planungsprozess mit allen wichtigen Akteuren statt. Das dabei entwickelte Konzept wurde in den politischen Gremien des Kreises vorgestellt und verabschiedet, sodass die Frühen Hilfen im September 2009 an den Start gehen konnten. Wichtig war insbesondere der gemeinsame Planungsprozess mit allen Beteiligten. Dazu wurde frühzeitig eine Steuerungsgruppe unter Federführung des Landkreises eingerichtet, in der alle wesentlichen Beteiligten durch Vertreter und Multiplikatoren für ihre Institution oder Profession vertreten waren, also z. B. der Sprecher der Ortenauer Kinderärzte für die Profession der Kinderärzte. Insgesamt waren 20 Institutionen und Professionen aus der Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen und weiteren wichtigen Arbeitsfeldern wie der Schwangerschaftsberatung und der Frühförderung vertreten.  Sehr wichtig für diesen Prozess war, dass es einen klaren politischen Willen und Auftrag zur Konzeptentwicklung gab, sodass wir im Top-Down-Prinzip arbeiten konnten. Ohne klare Auftragslage der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung ist es sicher erheblich schwieriger, ein solches Konzept umzusetzen. Neben der Berücksichtigung der jeweiligen institutionellen Hierarchien war es aber auch wichtig, fachliche Motoren mit in die Planung hinein zu nehmen. Erfreulicherweise haben sich in jedem relevanten Bereich, wie z. B. bei den Kinderärzten und in den Geburtskliniken, engagierte Fachleute gefunden, denen aus ihrer Perspektive die Sache der Frühen Hilfen sehr wichtig war und die damit einen großen Beitrag zur Entwicklung in ihren Institutionen, aber auch im gesamten Netzwerk geleistet haben.  

Wir haben dann in drei Arbeitsgruppen gearbeitet, die das tragende Konzept der Frühen Hilfen entwickelt haben. Wir sprechen von einem Vollsystem mit den drei Säulen 

  • Vernetzung und deren Weiterentwicklung zwischen Jugendhilfe, Gesundheitswesen und anderen Partnern
  • frühe Erreichbarkeit und Früherkennung
  • passgenaue Hilfen für besondere Zielgruppen.  

Wir halten diese drei Säulen für unverzichtbar und notwendig, um ein vollständiges Versorgungsangebot der Frühen Hilfen vorhalten zu können. Vernetzung ist eine notwendige Voraussetzung und eine große Herausforderung. Vernetzung allein garantiert jedoch noch nicht, dass irgendeine Form von Hilfe tatsächlich bei den Familien ankommt. 

Frühe Erreichbarkeit von Eltern und Früherkennung von Belastungssituationen sind besonders wichtig, da wir in den Frühen Hilfen – neben dem frühen Erkennen möglicher Belastungssituationen – bindungsstärkend arbeiten wollen. Deswegen sind wir darauf angewiesen, Familien möglichst früh zu erreichen, weil wir zu einem späteren Zeitpunkt die Bindungsentwicklung nicht mehr in diesem Maße fördern können. Frühe Erreichbarkeit und Früherkennung ohne die Verbindung mit unmittelbar zur Verfügung stehenden, schnellen und passgenauen Hilfen ist jedoch relativ wertlos. Es ist daher unverzichtbar, auch gut zugängliche und geeignete Hilfen in ausreichendem Umfang zur Verfügung zu haben. Umgekehrt nutzen die besten Hilfen nicht allzu viel, wenn sie – so wie das in der Vergangenheit der Fall war –  häufig erst zu einem sehr fortgeschrittenen Zeitpunkt die Familie erreichen. Dann haben wir die Chance früher Prävention verpasst. Insofern sollte ein System Früher Hilfen immer diese drei Säulen in guten Einklang miteinander bringen.

Neben der auch heute noch arbeitenden zentralen Steuerungsgruppe Frühe Hilfen für den gesamten Kreis haben wir in den einzelnen Raumschaften jeweils regionale Runde Tische Frühe Hilfen eingerichtet. Dort kommen die Akteure jeder einzelnen Region zusammen, tauschen sich über aktuelle Entwicklungen aus und stellen Bedarfe zur nötigen Weiterentwicklung fest. Diese werden dann wieder im Gesamtlandkreis zusammengetragen und dort in die weiteren planerischen und konzeptionellen Überlegungen aufgenommen. Unser Prinzip ist: zentral planen und regional handeln.

Auf welchen Wegen erreichen Sie Familien mit Unterstützungsbedarf? 

Am einfachsten und auch am sinnvollsten ist es immer, Familien da zu erreichen, wo sie sich ohnehin aufhalten oder anzutreffen sind. Bei den Frühen Hilfen haben wir die eigentlich sehr günstige Ausgangsposition vieler natürlicher Kontaktstellen im Gesundheitssystem wie Hebammen, Gynäkologen, Kinderärzte und Entbindungskliniken. Dabei kommt den Entbindungskliniken eine ganz besondere Bedeutung als „Nadelöhr“ zu, denn 98% aller Geburten in Deutschland finden in Entbindungskliniken statt. Es ist also mehr als naheliegend, genau diesen Zugang zu nutzen. Eine höhere Quote erreichbarer Eltern gibt es an keinem zweiten Ort. Da gleichzeitig mit der Geburt eine veränderte Lebenssituation für die Eltern eintritt, ist die Bereitschaft, über das neue Lebensthema Entwicklung und Erziehung eines Kindes zu sprechen, besonders hoch. Es war uns deshalb von Beginn an ein zentrales Anliegen, alle Entbindungskliniken im Landkreis intensiv in das Konzept der Frühen Hilfen einzubinden. Dass uns das tatsächlich gelungen ist, ist mit entscheidend für den großen Erfolg der Frühen Hilfen in unserem Landkreis.  

In unseren Entbindungsklinken erhalten alle Eltern – und die Betonung liegt auf alle – unseren Infoflyer zu den Frühen Hilfen in einem persönlichen Gespräch ausgehändigt. Gleichzeitig haben wir die Anwendung des Unterstützungsbogens für einen guten Start ins Kinderleben in allen unseren Kliniken vereinbart. Das Klinikpersonal wurde in der Anwendung des Bogens und dem Führen von vertiefenden Gesprächen geschult. Dieses Verfahren ist allerdings zwingend daran gekoppelt, dass im Anschluss auch unmittelbare passgenaue Hilfen zur Verfügung stehen. Deswegen gibt es im Fall eines Unterstützungsbedarfs und eines Unterstützungswunsches einen sehr schnellen Weg von der Entbindungsklinik zu den Hilfen unserer neu eingerichteten fünf Fachstellen Frühe Hilfen in den Raumschaften des Landkreises. 

Auch die Kliniken schätzen dieses Verfahren sehr, weil sie wissen, dass Familien sehr schnell Hilfe bekommen und sie nicht mehr mit einem „schlechten Bauchgefühl“ klarkommen müssen, wenn sie bei einer Familie Belastungen spüren, es aber bisher nicht gelang, diese Familien in eine passende Hilfe zu bringen.  Aber natürlich ist auch dieses Verfahren nur ein Teil im gesamten Netzwerk. Die heutigen Liegezeiten auf den Entbindungsstationen sind so kurz, dass niemand davon ausgehen kann, dass mehr als erste Hinweise auf Belastungen und Hilfebedarf gesehen werden können. Umso wichtiger ist ein funktionierendes Netzwerk mit Hebammen, Familienhebammen, Kinderärzten und vielen weiteren, sodass auch die folgenden Zugangsstellen des Gesundheitswesens für den Eintritt in die Frühen Hilfen genutzt werden können.

Das Prinzip ist immer: das Gesundheitswesen verfügt über die natürlichen Zugänge, die Jugendhilfe verfügt über die passenden Hilfen oder muss diese einrichten. Also müssen wir diese beiden Bereiche systematisch und verbindlich miteinander in Kooperation bringen.  

Wie gelingt es, tragfähige Kontakte zwischen Familien und den Anbietern Früher Hilfen zu vermitteln?

Neben dem Zugang über die Geburtskliniken, in denen wir alle Eltern ansprechen, sind die Fachstellen Frühe Hilfen das zentrale Element unseres Konzepts. Fünf solcher Fachstellen wurden 2009 neu eingerichtet und zunächst mit Diplompsychologinnen besetzt, später auch interdisziplinär erweitert. Diese Fachstellen wurden an den bereits bestehenden fünf Erziehungsberatungsstellen im Landkreis angebunden, da dort sowohl fachlich als auch organisatorisch Synergieeffekte möglich sind. Gleichzeitig können damit auch Hilfen, die über das dritte Lebensjahr hinausgehen, direkt weitergeführt werden. 

Wir haben diese Stellen bewusst als Fachstellen und nicht als reine Koordinationsstellen konzipiert. Wenn es z. B. über die Entbindungskliniken gelingt, Eltern mit hohen Belastungen und aktuell noch ambivalenter Haltung gegenüber einem möglichen Hilfeangebot zu gewinnen, dann muss der Weg zu den Hilfen sehr schnell sein und in unmittelbare, möglichst praktische Unterstützung münden. Die Fachstellen bieten daher jeweils Beratung, Diagnostik und kurzfristige therapeutische Unterstützung an. Wenn der Hilfebedarf darüber hinausgeht, stehen den Fachstellen die Hilfen aus dem sogenannten Präventionspool zur Verfügung. Daraus können direkt zugehende Hilfen wie Familienhebammen, Familien- Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-innen, Frühe Familienhilfen sowie Hilfen in der Unterstützung der Haushaltsführung oder Familienpflege zur familiären Entlastung eingesetzt werden. Dafür stehen eigene Finanzmittel zur Verfügung, sodass diese Hilfen sehr schnell und unbürokratisch eingesetzt werden können. Bei Anfragen aus den Entbindungskliniken haben wir eine Reaktionszeit von einem Tag auf die Anfrage vereinbart. Auch unsere Fachstellenmitarbeiterinnen selbst machen Hausbesuche oder gehen bereits zum Zeitraum der Entbindung in die Kliniken. 

Das Prinzip der Fachstellen „Eine Ansprechpartnerin für alle Fälle“ hat sich für Eltern und Fachleute sehr gut bewährt. Durch Wegweiser mit sehr vielen Möglichkeiten sind Eltern oft überfordert, daher sollte es einen klaren Weg geben, der dann aber auch unmittelbar zu Hilfen führt.

Auch alle Fachleute aus dem Netzwerk wissen: Bei Fragen kann ich mich jederzeit an die zuständige Fachstelle Frühe Hilfen wenden.  

Erreichen Sie nach fünf Jahren Erfahrung mehr Familien als zuvor? 

Die Inanspruchnahme der Frühen Hilfen hat uns hier alle im positiven Sinne überwältigt. Nach rund 400 Fällen gleich im ersten Jahr ist die Inanspruchnahme in der Zwischenzeit um über 40% auf zuletzt 563 Fälle im Jahr 2014 angestiegen. Besonders erfreulich ist, dass auch der Anteil von Selbstmelderinnen in diesem Zeitraum von anfänglich 20% auf rund 40% angestiegen ist. Wir erreichen sehr viele Familien, die wir früher nicht und vor allem nicht so früh erreicht haben, viele inzwischen schon während der Schwangerschaft. Insgesamt fast 80% aller Fälle erreichen wir im Zeitraum Schwangerschaft und erstes Lebensjahr. Von den Fällen innerhalb des ersten Lebensjahres erreichen wir wiederum zwei Drittel bereits in den ersten beiden Lebensmonaten. Das Kriterium der frühen Erreichbarkeit wird damit in hohem Maße erfüllt. 

Insbesondere erreichen wir Familien mit hohen sozialen Belastungen und wenig sozialer Unterstützung sowie Eltern mit teilweise erheblichen psychischen Belastungen oder noch nicht erkannten oder nicht behandelten psychischen Erkrankungen. Die Eintrittskarte der Eltern ins Hilfesystem ist aber nicht die psychische Erkrankung, sondern die Sorge um die Entwicklung des Kindes. Dieser Aspekt muss bei den Frühen Hilfen immer im Vordergrund stehen. Unsere Familienhebammen haben mich immer wieder gefragt, was mit diesen Familien eigentlich vor Einführung der Frühen Hilfen geschehen ist und welche Hilfen sie wann bekommen haben. Es ist offensichtlich, dass vor Einführung der Frühen Hilfen eine große Lücke im Versorgungsangebot bestand und diese Lücke nun geschlossen werden konnte.  

Großer Erfolg kann auch Probleme mit sich bringen. So waren die Ressourcen unserer Fachstellen zumindest in den größeren Einzugsbereichen nach einiger Zeit mehr als ausgelastet. Wir waren sehr froh, dass wir unsere Frühen Hilfen dann im Rahmen der Bundesinitiative Frühe Hilfen qualitativ weiter differenzieren und quantitativ ausbauen konnten.

Der Ortenaukreis hat von Anfang an große finanzielle Mittel in die Frühen Hilfen investiert, um eine gute Versorgung anbieten zu können. Die Bundesinitiative Frühe Hilfen kam für uns zum richtigen Zeitpunkt für die erforderliche Weiterentwicklung. In vielen anderen Kommunen war sie erfreulicherweise der Ausgangspunkt für Neuentwicklungen.

Kann jede Familie darauf vertrauen, dass sie auf die erforderlichen Hilfen zugreifen kann?

Ja, das können wir mit Fug und Recht sagen und darauf sind wir stolz. So haben wir z. B. auch in den Vergütungsregelungen für Familienhebammen Differenzierungen eingebaut, je nachdem wie weit der Weg zu einer Familie ist. Unser Netz der Fachstellen ist wohnortnah, der Anteil zugehender Hilfen ist hoch. Auch unsere Fachstellen selbst führen in 80% der Fälle zumindest einen Hausbesuch durch.   

Was sind die wesentlichen Kriterien für den Erfolg Früher Hilfen?

Voraussetzung ist zunächst ein echtes Engagement für dieses Thema, aber das ist eigentlich bei allen Berufsgruppen vorhanden. Wichtig ist eine klare Auftragslage seitens der Kommune und die Bereitschaft, in Prävention zu investieren. Und dann brauchen Sie ein gutes Konzept, das möglichst mit allen Partnern von Anfang an gemeinsam entwickelt wird. Daraus kann eine Verantwortungsgemeinschaft entstehen, bei der tatsächlich alle in einem Boot sitzen und auch bei auftretenden Schwierigkeiten hinter dem gemeinsam erarbeiteten Konzept stehen. Von der  Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Gesundheitswesen müssen beide Seiten profitieren. Und schließlich müssen ausreichend Hilfen – und damit auch Finanzmittel – vorhanden sein. Diese müssen wiederum sehr schnell und passgenau bei den Familien ankommen. Das ist im Endeffekt entscheidend, nach dem Motto „Koordinieren Sie noch oder helfen Sie schon?“. 

Auf welchen Wegen wurden Ärztinnen und Ärzte für die Kooperation in Netzwerken Früher Hilfen gewonnen?

Von Anfang an konnten aus allen ärztlichen Berufsgruppen engagierte Kolleginnen und Kollegen gewonnen werden. Allerdings waren einzelne Ärztegruppen wie Gynäkologen, Hausärzte und auch Psychiater und Psychotherapeuten zunächst nur in geringem Umfang vertreten. Ein wichtiger ergänzender Baustein kam durch das Projekt „Vernetzung vertragsärztlicher Qualitätszirkel mit Frühen Hilfen“ hinzu, das die KV (Kassenärztliche Vereinigung) Baden-Württemberg durchführt. Dabei wird das Prinzip der ärztlichen Qualitätszirkel für die Frühen Hilfen nutzbar gemacht. Zur Durchführung dieser Qualitätszirkel werden Moderatorentandems aus Jugendhilfe und Gesundheitswesen geschult. 

Im Ortenaukreis hat sich daraus ein sehr stabiler Qualitätszirkel mit Ärzten aus verschiedenen Fachrichtungen sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Frühen Hilfen und der Jugendhilfe gebildet, ein zweiter wird in Kürze folgen. Inzwischen wurden auf Landesebene auch Verträge zwischen der KV, den kommunalen Spitzenverbänden und einzelnen Krankenkassen geschlossen, im Rahmen derer ärztliche Leistungen im Bereich Früher Hilfen auch honoriert werden können. Das verläuft bei weitem noch nicht flächendeckend, stellt aber einen kleinen Durchbruch an einer sehr wichtigen Stelle dar. Ich hoffe sehr, dass dieses Konzept auch von den KVen in anderen Bundesländern übernommen wird. 

Spüren Sie deutliche Auswirkungen dieser Maßnahmen?

Die Akzeptanz der Frühen Hilfen ist hoch, das Image ist sehr gut und damit auch die Bereitschaft zur Mitwirkung. Viele Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen nehmen an unseren Runden Tischen oder bei anderen Veranstaltungen teil. Die Professionen respektieren sich gegenseitig und sehen einen klaren Gewinn in der Zusammenarbeit. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Kolleginnen und Kollegen aus dem Gesundheitswesen unter anderen Voraussetzungen arbeiten. Natürlich kann nicht immer die Praxis zur Teilnahme an Sitzungen verlassen oder gar geschlossen werden. Hier müssen wir unsere Erwartungen auch an die Möglichkeiten anpassen. Gleichzeitig ist es an der Zeit, dass das Gesundheitswesen verstärkt aktive und finanzielle Schritte unternimmt, um die Beteiligung im System der Frühen Hilfen weiter auszubauen und langfristig zu sichern.  

Welche sind die nächsten Schritte, um Frühe Hilfen im Ortenaukreis weiter zu verstetigen und zu sichern? 

Die Frühen Hilfen sind aus der Versorgungslandschaft des Ortenaukreises nicht mehr wegzudenken. In unserem Landkreis haben wir ein sehr gut funktionierendes System der Frühen Hilfen, das sich immer weiter ausdifferenziert. Die Frage ist nur, wie und an welchen Stellen es sich weiterentwickelt und ob auch weiterhin vom Landkreis genügend Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden. Wenn eine Kommune aber grundsätzlich vom Nutzen früher Prävention überzeugt ist, wird auch eine Bereitschaft da sein, erforderliche Weiterentwicklungen politisch und finanziell mitzutragen. 

Bei uns im Ortenaukreis ist durch den gemeinsamen Prozess der Konzeptentwicklung die Verantwortungsgemeinschaft zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen in hohem Maße entwickelt und genießt auch das Ansehen der Politik. Dazu ist es wichtig, unsere Ergebnisse regelmäßig vorzustellen und zu zeigen, dass wir sowohl fachlich hoch kompetent als auch wirtschaftlich arbeiten. Nur so kann eine Investition in die Frühen Hilfen auch tatsächlich als eine Investition in die Zukunft von Kindern und Familien im Ortenaukreis vermittelt und verstanden werden. Sehr hilfreich wäre auch das Einbringen von zusätzlichen Ressourcen und Finanzmitteln aus dem Gesundheitswesen. Finanziell ist die gute Kooperation zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen leider nicht abgebildet. 

Schon bald hat sich für uns die Frage gestellt, wie geht es eigentlich nach den Frühen Hilfen weiter? Dazu ist es in den Einzelfällen wichtig, gute Anschlusshilfen zu finden, was durch die Anbindung der Fachstellen an die Erziehungsberatungsstellen erheblich erleichtert wird. Wir haben darüber nachgedacht, wie ein vergleichbares System auch für über 3-jährige Kinder und ihre Familien implementiert werden könnte. Vor diesem Hintergrund hat sich der Ortenaukreis bei der Ausschreibung „Gesundheits- und Dienstleistungsregion von morgen“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) beworben und den Zuschlag zur vierjährigen Durchführung des Modellprojekts „Präventionsnetzwerk Ortenaukreis (PNO)“ erhalten. Vorrangig infrastrukturell ausgerichtet bauen wir seit November 2014 flächendeckende Angebote von Gesundheitsförderung und Prävention in den unmittelbaren Lebensräumen der Kinder auf, sprich in den Kindertagesstätten und Schulen im Ortenaukreis. Ausgehend von einem biopsychosozialen Verständnis von Gesundheit geht es dabei um körperliche und seelische Gesundheitsförderung sowie soziale Teilhabe für alle Kinder von drei bis zehn Jahren und deren Familien, aber auch um die Berücksichtigung besonders belasteter Familien und besonders belasteter Institutionen. Denn wir alle wissen, dass die Chancen einer gesunden Entwicklung nicht unabhängig vom sozioökonomischen Hintergrund einer Familie sind.  

Der Ortenaukreis verfolgt damit eine konsequente kommunale Präventionsstrategie. Auch wenn noch keine unmittelbaren finanziellen Spareffekte nachzuweisen sind, so zeigen sich doch bereits in vielen Bereichen klare Erfolge dieser präventiven Investitionen. Ein Landkreis, der in die Zukunft seiner Kinder und Familien investiert, ist auch ein guter Standort zum Leben und zum Arbeiten.

Infodienst Bundesinitiative FRÜHE HILFEN aktuell